Reformator in diplomatischer Mission
Informations- und Dokumentationszentrum »Luther in der DDR« in Wittenberg eröffnet
Rechtzeitig vor dem Reformationstag eröffnete der Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Jan-Hendrik Olbertz, in der Lutherstadt Wittenberg das neue Informations- und Dokumentationszentrum »Luther in der DDR«. Getragen wird diese neue Einrichtung vom Verein PFLUG e.V., der auch das Haus der Geschichte in Wittenberg betreibt, und dem Berliner Institut für vergleichende Staat-Kirche-Forschung, das sich seit 1993 wissenschaftlich mit dem Thema Staat und Kirche in der DDR und anderen ehemals kommunistisch regierten Ländern befasst.
Im Rahmen der Lutherdekade bis 2017 haben beide Institutionen begonnen, in Wittenberg einen Ort zu schaffen, an dem Zeugnisse über den Umgang mit Martin Luther im ostdeutschen Staat gesammelt und präsentiert werden sollen. In der ersten Aufbaustufe des Zentrums liegt der Schwerpunkt auf den kirchlichen und staatlichen Ehrungen aus Anlass des 500. Geburtstages des Reformators am 10. November 1983. Kirche und Staat fühlten sich damals gleichermaßen dessen Erbe verpflichtet, ließen sich dabei aber von unterschiedlichen Zielen und Interessen leiten.
Der Kirche und ihrem Lutherkomitee ging es nicht darum, eine historische Persönlichkeit und ihre Verdienste schlechthin zu würdigen, sondern darum, Luther selber zu Wort kommen zu lassen und »der Sache Raum zu geben, um die es Luther zu tun war«, also Gottes Sache. Als Leitthema für den 500. Geburtstag des Reformators wählten die evangelischen Kirchen in der DDR dessen Erklärung zum ersten Gebot »Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen«. Bei ihren Aktivitäten legten sie besonderen Wert auf Nähe zu den Gemeinden und auf ökumenische Gemeinschaft.
Der SED und dem Staat ging es im Unterschied dazu in erster Linie darum, die über Theologie und Kirche hinausführenden Wirkungen Luthers und seines Werkes im Bereich der Kultur, Politik und Gesellschaft zu würdigen und ihm einen angemessenen Platz in der marxistischen Erbe- und Traditionspflege zuzuweisen. Und nicht zuletzt auch darum, der DDR einen Zuwachs an historischer Legitimation und außenpolitischer Reputation zu verschaffen. Noch nie zuvor in der DDR-Geschichte wurde eine historische Persönlichkeit, die nicht aus der Ahnereihe der Arbeiterbewegung stammte, so umfassend positiv und mit einem solchen Aufwand gewürdigt wie Martin Luther 1983. Und das alles, wo doch in jenem Jahr eigentlich Karl Marx im Mittelpunkt hätte stehen müssen, dessen 100. Todestag sich jährte, weshalb 1983 offiziell zum Karl-Marx-Jahr proklamiert worden war.
Beide Seiten waren bei der Vorbereitung des 500. Geburtstages des Theologen und bei der Durchführung der vielfältigen staatlichen und kirchlichen Höhepunkte – 1983 fanden allein sieben regionale Kirchentage statt – auf Kooperation angewiesen, die bei Wahrung der Eigenständigkeit des jeweils anderen zu beachtlichen Erfolgen geführt hat. Manchen wird die Würdigung dieses Ausmaßes sicher mit einer gewissen Genugtuung erfüllt haben. Nachdem Luther in der DDR lange genug verkannt und geschmäht worden war, räumte ihm dieser Staat nunmehr endlich den Platz ein, der ihm gebührte. Andere verspürten bei so viel Entgegenkommen und Wohlwollen der Partei und des Staates gegenüber dem Geistlichen und dem kirchlichen Anliegen ein gewisses Unbehagen und fürchteten, ihr Luther werde – wie schon häufiger in der deutschen Geschichte – vereinnahmt für eine Sache, die die seine nicht war.
Die auslandsinformatorischen, heute würde man sagen die auslandspropagandistischen, Anstrengungen der DDR im Zusammenhang mit den Lutherehrungen 1983 sind von der Öffentlichkeit und auch von der historischen Forschung bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Das neue Zentrum in Wittenberg präsentiert interessante Fakten und zeigt eine Anfang der 1980er Jahre für den Auslandseinsatz produzierte Ausstellung »Luther 1483-1983«, die vom Martin-Luther-Komitee der DDR in Auftrag gegeben, vom Zentrum für Ausstellungen des Ministeriums für Kultur der DDR hergestellt, von Michael Krille inhaltlich verantwortet und von Professor Rudolf Grüttner künstlerisch gestaltet worden ist. Sie wurde viersprachig (Deutsch, Englisch, Französisch und Schwedisch) und in drei Varianten hergestellt und in 61 Länder ausgeliefert. Allein in der Kathedrale im britischen York soll sie 300 000 Besucher angezogen haben. Die umfangreichen Auslandsaktivitäten der DDR im Lutherjahr erfassten über 85 Länder. Im Fokus standen dabei vor allem jene mit reformatorisch-lutherischen Prägungen sowie mit einem größeren deutschsprachigen Anteil der Bevölkerung.
Ende der 1970er Jahre war die DDR zwar von fast allen Staaten der Welt diplomatisch anerkannt und Mitglied der Vereinten Nationen. Dennoch stieß sie in den westlichen Demokratien immer wieder auf massive Vorbehalte, vor allem, wenn es um Menschen- und Freiheitsrechte ging. Im Zentrum stand dabei oftmals der Vorwurf, in der DDR wäre, wie in anderen realsozialistischen Ländern auch, die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht gewährleistet, Christen würden in ihrer schulischen und beruflichen Entwicklung behindert und die Kirchen mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben verdrängt.
1983 wollte die SED- und Staatsführung den gekrönten und ungekrönten Staatsoberhäuptern, Männern und Frauen der Kirchen sowie Touristen aus aller Welt die DDR als ein Land präsentieren, in dem Menschen unterschiedlicher Weltanschauung und Religion gleichberechtigt und gleich geachtet am Aufbau des Sozialismus teilnehmen und die Friedenspolitik ihres Staates uneingeschränkt bejahen. Dies führte 1983 – von manchen Funktionären zähneknirschend hingenommen – zu interessanten Aufbrüchen und überraschenden Veränderungen, insbesondere in der Kirchen-, Kultur- und Medienpolitik der DDR. Bei den Lutherehrungen 1983 sah insbesondere Erich Honecker eine gute Chance, sich im Ausland als in der deutschen Geschichte tief verwurzelter deutscher Staat zu präsentieren und gegenüber der Bundesrepublik Punkte zu sammeln, schließlich lagen alle wichtigen Lutherstätten nun einmal auf dem Territorium der DDR.
Wer mehr über die Lutherehrungen 1983 sowie über »Luther in diplomatischer Mission« erfahren will, der sollte sich auf den Weg nach Wittenberg machen und das neue Informations- und Dokumentationszentrum besuchen (Wittenberg, Schlossstraße 6, geöffnet Montag bis Freitag 10-18 Uhr und Samstag und Sonntag von 11-18 Uhr).
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