Die Macht der Vergangenheit

Brandenburgs Ministerpräsident ruft zur Versöhnung auf – mit einem Vergleich, der irritiert

  • Wilfried Neiße, Potsdam
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit seinem Appell, 20 Jahre nach dem Mauerfall der Versöhnung den Vorrang vor der Abrechnung zu geben, schreibt Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Platzeck Geschichte. Die von ihm gebrauchte historische Parallele stößt auf Widerspruch.

Brandenburg sorgte in der Vergangenheit immer mal wieder für gesellschaftspolitische Durchbrüche. 1994 hat der damalige Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) mit seiner These von der »punktuellen Zusammenarbeit mit der PDS« die Tür zu einem bis dahin undenkbaren Raum aufgestoßen. In diese Reihe hat sich jetzt Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) gestellt. Mit seinem Appell, 20 Jahre nach dem Mauerfall der Versöhnung den Vorrang vor der Abrechnung zu geben, schreibt er Geschichte.

In einem Beitrag für das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« wirbt der Ministerpräsident für seine Entscheidung, in Brandenburg eine rot-rote Regierung zu bilden, also »eine Koalition mit genau derjenigen politischen Gruppierung einzugehen, die sich mittlerweile ›Die LINKE‹ nennt, aber aus der SED hervorgegangen ist«.

Kurt Schumacher und die Waffen-SS

Platzeck wirbt dafür, den nach wie vor bestehenden Riss in der heutigen Gesellschaft zu überwinden. Er erinnert daran, dass das Ende der DDR nun zwei Jahrzehnte zurückliegt. Das ist im Übrigen ein Zeitraum, in dem – abgesehen vom Mord – nach deutschem Recht jede Straftat verjährt. Platzeck fordert: »Wir müssen in Deutschland endlich anfangen, es mit dem überfälligen Prozess der Versöhnung endlich Ernst zu meinen.« Dazu seien Formen »ritualisierter Vergangenheitsbewältigung« eher nicht zweckdienlich. Die Macht der Vergangenheit sei gut erklärlich, aber sie tue Ostdeutschland nicht gut und sie tue der politischen Kultur nicht gut. Wie sehr er damit ins Schwarze getroffen hat, das beweisen die massiven Reaktionen. Ex-Sozialministerin Dagmar Ziegler (SPD) zum Beispiel widerspricht Platzeck und betont, es gebe keinen Riss in der ostdeutschen Gesellschaft.

In einem Abschnitt problematisiert Platzeck, dass die Versöhnung der deutschen Demokratie mit Hitlers willigen Vollstreckern eine Selbstverständlichkeit gewesen ist, während dies den Anhängern des DDR-Sozialismus bis heute verweigert wird. Der einstige SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher habe sich gegenüber Angehörigen der Waffen-SS versöhnlich gezeigt. Schumacher hatte sich Platzeck zufolge 1951 mit zwei ehemaligen Offizieren der Waffen-SS getroffen, die als Funktionäre der »Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit die Interessen« einstiger Waffen-SS-Leute vertraten. Als eine internationale Organisation jüdischer Sozialisten deswegen protestierte, habe Schumacher erwidert, viele seien gegen ihren Willen zur Waffen-SS eingezogen worden. Dass Plat-zeck diese Episode im Zusammenhang mit der LINKEN bringt, findet der Linkspartei-Vorständler Ulrich Maurer völlig verfehlt. »Der Vergleich ist eine Unverschämtheit«, sagte er gestern und bezeichnete die Waffen-SS als eine »Mörderbande«.

Neue Antworten provozieren neue Fragen

Als »törichten Vergleich« wertet der stellvertretende CDU-Landesvorsitzende Sven Petke die Argumentation Platzecks. Sie werde »Jubel bei Extremisten auslösen«. Als »monströse Parallele« kommentiert die Zeitung »Die Welt« die Schumacher-Passage. Dass es einen Riss in der Bevölkerung gebe, habe Platzeck sich »aus den Fingern gesaugt«.

Neue Antworten provozieren neue Fragen. Das gilt auch mit Blick auf die Jahre seit der politischen Wende. Im Verlaufe der Koalitionsverhandlungen haben sich beide Parteien aufeinander zu bewegt. Der im Koalitionsvertrag gefundene Kompromiss ist in beiden Landesverbänden umstritten. Die Sozialisten haben der seit 20 Jahren in Brandenburg regierenden SPD aber immerhin das Eingeständnis abgetrotzt, dass die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte nicht nur Gewinner, sondern auch Opfer und Verlierer kennt. Platzeck selbst spricht von einer »beträchtlichen Minderheit derjenigen, die sich zurückgezogen haben, weil sie sich zurückgesetzt fühlen«. Beide Parteien betonen in ihrem Vertrag, dass der Übergang von der DDR in das vereinigte Deutschland zu Recht von der großen Mehrheit der Ostdeutschen begrüßt und gefeiert wurde. Damit verbanden sich große Hoffnungen, die in vielen Fällen auch erfüllt worden sind. In vielen Fällen aber auch nicht.

Die Rolle der Landmannschaften

Der Umgang mit der Nazi-Vergangenheit war eine der stärksten Seiten der DDR und eine der problematischsten der Bundesrepublik. Hier liegt auch der Grund für die besondere Aggressivität, mit der heute jeglicher sachliche Vergleich in der Öffentlichkeit unterbunden wird. Jahrzehntelang konzentrierte sich die kulturelle Trauerarbeit Westdeutschlands auf deutsche Flüchtlinge und Kriegsgefangene. Die Landsmannschaften waren schlagkräftige Organisationen. Mit einem »Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte« hatten sie auch eine handfeste Vertretung in der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Nie wurde dagegen ein Ministerium für die Opfer der Nazis eingerichtet.

Der Osten Deutschlands dagegen machte das »große Vergessen« nicht mit, wie die langjährige Korrespondentin des »Figaro«, Stephane Roussel, in ihrem Buch »Die Hügel von Berlin« schrieb.

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