Kunst durch Qual
»Vincent« auf der Folterleiter im Theater unterm Dach
Alles schon mal da gewesen. Shakespeare schrieb hier etwas ab, Hugo kopierte da etwas. Von da an ging's bergab. Manager Harlan Eifler weiß, wovon er auf der Suche nach ungewöhnlichen Talenten redet. Sehr schwierig, die Sache. Jetzt hat er Vincent aufgespürt, das Wunderkind einer davon nichts ahnenden Mutter. Obwohl sie meint, der Kleine hätte sich »Lesen, Schreiben und anderen Kram« allein beigebracht. Ansonsten herrsche Ordnung in ihrer Familie. Jedes Kind habe seinen eigenen Vater.
Manager Eifler ist in dem von der Gruppe TheaterschaffT herausgebrachten Stück »Virulent oder Die Folterleiter zum Ruhm« im Auftrag des Medientycoons Foster Lipowitz eifrig unterwegs. Dem sind angesichts seines nahen Endes alle Sünden eingefallen. Nachdem er mit verdummender Unterhaltung Millionen verdiente, fühlt er sich für die zentrale Verblödung und massenhaft schrumpfende Gehirne verantwortlich.
Bevor er stirbt, will er noch mal in die andere Richtung steuern und »richtige« Unterhaltung über die Medien bieten. »Ab jetzt will ich die Kunst zurückbringen, koste es, was es wolle, oder mindestens die künstlerische Seite der Unterhaltung stärken... Wir werden unsere Künstler nicht mit Belohnung wie Geld, Ruhm und Sex anspornen, sondern durch Entbehrungen; wir geben nicht, sondern nehmen weg. Das Entertainment braucht den archetypischen Künstler von früher...«
Lipowitz gründet die geheim arbeitende Akademie für hoch begabte Kinder »New Renaissance«, wo jedes Kind seinen eigenen Manager hat. Allerdings vertritt er die Meinung, dass wahre Kunst nur von gequälten Seelen hervorgebracht werden kann. Das bekommt dann auch »Vini« zu spüren. Also vergiftet Manager Eifler als Überraschung zum Geburtstag mal eben den Hund des Kindes. Und siehe da, Verzweiflung gebiert Kreativität. Klappt doch, die »Förderung«.
Finsterer Humor prägt das von Stephan Thiel nach Joey Goebels Roman »Vincent« von 2005 erarbeitete Stück, das – gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und die Stadt Leipzig – in Kooperation mit dem Theater Magdeburg und dem Theater unterm Dach in Prenzlauer Berg entstand. Merkwürdige Fragen gehen mir da durch den Kopf. Ist die Industrie mit der Erfindung des Flachbildschirms vielleicht auch dem Ansinnen gefolgt, die Form dem Inhalt anzupassen? Oder: Welche Philosophie haben eigentlich Politiker, wenn sie sich vor die Aufgabe gestellt sehen, Künstler als Minderheit fördern zu müssen? Vincent jedenfalls – bald bester Schüler der geheimen Akademie – erfährt ausreichend von seinem Manager organisierte Enttäuschungen, um produktiv zu sein.
Gespielt wird Vincent von Nadja Petri. Sie versteht es ausgezeichnet, das ungewöhnliche Kind naiv darzustellen, aber keineswegs albern. Andreas Guglielmetti gibt den knallharten Manager, der an seine Altersvorsorge denkt, wenn er Utensilien des Heranwachsenden an sich nimmt und aufbewahrt. Voller Kraft spielt der Schauspieler diese fiese Rolle. Als Medientycoon und in weiteren Rollen sieht man Mathis Freygang. Während er als Kranker das Stück überzeugend beginnt, lässt ihn sich der Regisseur später in weiteren Rollen weitgehend zurücknehmen, um die Wirkung der anderen Figuren zu verstärken. So auch die von Gabriele Völsch gespielten Rollen. Die Schauspielerin muss in diesem Stück die größte Wandlungsfähigkeit beweisen und bringt das Publikum dabei zum Staunen.
Stephan Thiel setzt mit der Inszenierung das Wesentliche des Romans um. Dass der Inhalt – die Verblödung durch das inhaltliche TV-Angebot – keine Überraschung sein kann, ist jedem bewusst. Kein Problem ist auch, dass der Regisseur das Ende des Romans nicht haargenau ausarbeitet. Er beruft sich ohnehin auf Motive, nach denen er das 90-minütige Stück reich an Aussagen schuf. Das über den Roman ins Visier genommene Niveau der so genannten Unterhaltung kann das Theater auch nicht ändern. Wenigstens aber kann es spotten, was das Zeug hält.
5. u. 6.11., 20 Uhr, Theater unterm Dach, Danziger Straße 101, Prenzlauer Berg, Tel.: 902 95 38 17
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