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Staatstragender als der Staat

Peter Sloterdijk eröffnet Buchwochen des Börsenvereins im Deutschen Theater

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Buchhändlerin Margrit Starick hat die Lacher auf ihrer Seite. Zur Eröffnung der Berlin-Brandenburgischen Buchwochen des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels am Sonntag verweist sie darauf, dass es im nächsten Jahr keine Unterstützung des Senats für diese Veranstaltung geben werde. »Autorenlesungen haben keinen Event-Charakter«, lautet Starick zufolge die Begründung der Kulturverwaltung. Einzelne Unmutsrufe ertönen im plüschig-goldenen Saal des Deutschen Theaters (DT). In der dann folgenden Stunde zelebriert der Philosoph und Autor Peter Sloterdijk gemeinsam mit seinem Stichwortgeber Thomas Macho, Kulturwissenschaftler an der Humboldt-Universität, genüsslich, dass Lesungen eben doch Event-Charakter haben können.

Weil die Berliner – im Gegensatz zur zuständigen Landesbehörde – um die Entertainer-Qualitäten Sloterdijks wissen, strömten sie zuhauf ins DT, um dem sich durch die Epochen fressenden Universal-Leser bei der leibhaftigen Vorstellung seiner Thesen beizuwohnen. Sie wenden damit Sloterdijks eigene Thesen an. Denn der bemerkt in seinem jüngsten Werk »Du musst dein Leben ändern«, dass Wissenserwerb historisch gesehen nicht ein ätherischer Lektüreakt ist, sondern ein beständiger Prozess von Übung und Training.

Sloterdijk bemüht antike Philosophen und frühchristliche Asketen, die er als »Denk-Athleten« vorstellt, um zu belegen, dass Denken und Studieren eine Praxis sei, die sich durch diszipliniertes Einüben auszeichne.

Der Kulturhistoriker Macho nickt dabei eifrig und notiert. Zitiert Macho aus seinen Notizen, dann nickt Sloterdijk und kritzelt seinerseits etwas aufs Papier. Dies ist ein schönes Bild. Das dialogische, von der Speichertechnik Schreiben unterstützte Formulieren von Gedanken ist ein faszinierendes Gegenmodell zur heute oft üblichen medialen Praxis des Versendens weitgehend ideenfreier Textbausteine.

Inhaltlich wagt sich Sloterdijk allerdings auf vermintes Gelände vor. Vor einem Jahrzehnt hatte er sich mit seinen u.a. an Nietzsche entwickelten »Regeln für den Menschenpark« an Menschenzüchtungsfantasien berauscht. Jetzt deutet er die Entwicklung von abendländischem Kapitalismus und jüdisch-christlichem Humanismus als Resultat einer doppelten »Überproduktion von Bevölkerung und von Idealismus«. Kronzeuge ist ihm hier der böhmische Humanist Comenius. Der habe, meint Sloterdijk, den Menschen durch ein neues Bildungssystem wie eine Münze prägen wollen. Während er die wieder entdeckte Praxis des Übens und Trainierens eingangs durchaus mit Wohlwollen untersucht hat, wandert Sloterdijk nun zu einer negativ gefärbten Betrachtung dieses Prozesses.

Mittendrin äußert er – zur hämischen Freude seines Publikums – seine Verwunderung darüber, dass die 13-jährige Beschäftigung der Bildungshandwerker mit ihrem Arbeitsobjekt Schüler beileibe nicht nur erlesene Produkte »wie etwa Luxussalzstreuer« hervorbringe. Auch sonst lässt er vom bürgerlichen Subjekt nicht viel übrig. Geprägt in den Bildungsanstalten, vom frühen Sterben dank neuer Kulturtechniken bewahrt, würden diese im Übermaß produzierten Akteure als Kolonialisten in alle Welt hinausströmen. Sie seien nicht mehr Helden der Landnahme oder finstere Unterdrücker der Eingeborenen, sondern nur noch ausführende Elemente eines Bildungs- und Medizinprogramms.

Sloterdijk fantasiert zwar nicht mehr von der leicht misszuverstehenden Züchtung des Menschen. Aber in seinem neuen Buch wirft er auf die letzten 400 Jahre Abendland einen Blick, der den Menschen als reinen Rohstoff einer sich entwickelnden Wissensgesellschaft betrachtet. Sloterdijk formuliert diese Einsichten schriftlich wie mündlich brillant. Er kreiert damit allerdings das philosophische Grundlagendokument eines den Menschen bloß als Humankapital auf der Rechnung führenden Neoliberalismus. Er projiziert das Denken über »Human Resources« in die kulturell hoch geschätzte Epoche der Aufklärung.

Weil sich aber nicht jedermann diese Epoche derart umdeuten lassen will, gedeien derzeit massenhaft alternative Interpretationsversuche. Vor dem Deutschen Theater warb etwa ein Autonomes Lektüreseminar der Humboldt-Uni um Aufmerksamkeit (Infotelefon: 42 85 70 90). Simples Lesen und Vorlesen scheint trotz mangelnder Förderungswürdigkeit durch den Senat also doch noch eine verbreitete Praxis. Mit Sloterdijk argumentiert, sind die sich selbst organisierenden Subjekte damit allerdings staatsnäher (weil bildungsbewusster), als der Staat selber. Je genauer man hinschaut, umso paradoxer erscheint die Gegenwart.

Buchwochen Berlin-Brandenburg, bis 23. November, Infos unter www.boersenverein.de

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