Über Marx hinaus ins Multiversum

Der Historiker Karl Heinz Roth über die Hoffnung auf die Weltrevolution der Ausgebeuteten

  • Lesedauer: 5 Min.
Karl Heinz Roth, Jg. 1942, hat Medizin studiert und war zeitweilig als Arzt tätig, bevor er zu seiner eigentlichen Profession fand: der Geschichte der sozialen Bewegungen und des Faschismus, über die er in vielfältiger Weise publiziert hat. Seit seiner Zeit in der SDS-Bundesspitze ist er ein mit den Klassenkämpfen in der Bundesrepublik eng verbundener Wissenschaftler. Roth, seit Jahren im Vorstand der Bremer Stiftung für Sozialgeschichte, hat jetzt zusammen mit Marcel van der Linden den Band »Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts« (Assoziation A, 605 S., 29,80 ) herausgegeben. Mit ihm sprach Axel Berger.
Geduld des Revolutionärs: »Auch Apathie, Ratlosigkeit und die Tendenz zu glauben, dass es die Nachbarn trifft und nicht einen selbst, können irgendwann in Rebellion umschlagen«, sagt Karl Heinz Roth im ND-Gespräch.
Geduld des Revolutionärs: »Auch Apathie, Ratlosigkeit und die Tendenz zu glauben, dass es die Nachbarn trifft und nicht einen selbst, können irgendwann in Rebellion umschlagen«, sagt Karl Heinz Roth im ND-Gespräch.

ND: Mit dem von Ihnen herausgegebenen Buch »Über Marx hinaus« wollen Sie sich explizit nicht in die derzeitige Marx-Renaissance einreihen, sondern an den Grenzen des Marxschen Werkes arbeiten. Nun kommen die meisten versammelten Autoren aus der marxistischen Linken. Ist das Buch auch eine Selbstkritik?
Roth: In bestimmter Hinsicht schon. Gerade für uns ältere Autorinnen und Autoren wurde immer deutlicher, dass das Marxsche Werk nicht so stringent ist, wie wir früher gedacht hatten. Zudem fielen uns zunehmend Fehler des Gesamtansatzes auf, die in den historischen Entwicklungen, aber auch durch die wissenschaftliche Kritik bloßgelegt wurden.

Welche sind das?
Die nachrangige Stellung der Arbeiterklasse in der Analyse der kapitalistischen Dynamik und den Objektivismus bzw. Determinismus im Marxismus hatten ich und andere in der Auseinandersetzung mit dem aus Italien stammenden Operaismus bereits in den 1970er Jahren kritisiert. Nun kam es uns darauf an, die exklusive Stellung der vor allem im nordatlantischen Raum dominierenden Figur des doppelt freien Lohnarbeiters innerhalb der globalen Klasse der Ausgebeuteten und die damit einhergehende eurozentrische Sichtweise in Frage zu stellen.

Der zentrale Begriff, den Sie als Antwort auf diesen eingeengten Proletariatsbegriff vorschlagen, ist der des »Multiversums« – die Summe aller Ausgebeuteten. Ist das Multiversum auch eine Konsequenz aus der stets blamablen operaistischen Annahme, es gebe bestimmte Segmente innerhalb des Proletariats, das die Prozesse anschieben würde?
Zumindest ist es ein endgültiger Abschied von dieser Annahme. Sie ging davon aus, dass nach den Facharbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts die industriellen Massenarbeiter die Epoche von den Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu den Revolten Ende der 60er und der 70er Jahre geprägt hätten. Diese Auffassung war trotz einiger wichtiger Analysen zu den Klassenzusammensetzungen nicht haltbar.

Vor 15 Jahren hatten Sie eine innerhalb der radikalen Linken intensiv diskutierte »Wiederkehr der Proletarität« prognostiziert. Widersprechen Sie dem nun?
Es ist eine Weiterentwicklung. Die Ausdehnung von Phänomenen wie Leiharbeit, Scheinselbständigkeit und anderer deregulierter Arbeitsverhältnisse führte bei mir zur Infragestellung einer ganz bestimmten zentralen Figur der Kämpfe. Es ging schon damals darum, die verschiedenen Existenzweisen innerhalb der Klasse der Ausgebeuteten zusammenzuführen und solidarisch aufeinander zu beziehen. Dennoch blieb dies noch auf die doppelt freie Lohnarbeit beschränkt. Mit dem Begriff des Multiversums wollen wir diese Sicht weiter entgrenzen.

Ein Bündnis aller Ausgebeuteten und Entrechteten?
Bündnis ist das falsche Wort. Es geht eher darum, dass im Marxismus die Reproduktionsarbeit von Frauen, die Subsistenzproduktion oder aber die derzeit wieder auflebende Sklaverei überhaupt nicht vorkamen. Marx ging davon aus, dass solche Arbeitsformen im Zuge der Durchsetzung des Kapitalismus verschwinden würden. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass sie insbesondere jenseits der klassischen industriellen Zentren Bestandteil der globalen Wirtschaft geblieben sind und sich teilweise sogar ausgedehnt haben. Ein sozialrevolutionärer Aufbruch wird von diesen Menschen genauso auszugehen haben wie von den klassischen Arbeitern in der Produktion und in Dienstleistungsgewerben.

Im Gegensatz zu Marx’ Erwartung, die Klasse würde sich durch die Industrialisierung vereinheitlichen, ist es eher zu ihrer weiteren Fragmentierung gekommen.
In der Tat.

Eine Solidarisierung von Menschen in völlig verschiedenen Lebensrealitäten hin zu »einer von Gewalt, Herrschaft und Ausbeutung freien Gesellschaft«, die Sie als Ziel formulieren, scheint aber kaum möglich zu sein, oder?
Es gibt darüber Diskussionen, auch unter uns Herausgebern und Autoren. Für mich ist klar, dass es nicht mehr möglich ist, einfach eine neue Internationale zu konstituieren, die diese Fragmentierung zwar anerkennt, aber trotzdem zu einem konzeptionellen Vereinheitlichungsprozess führen will. Die Fragmentierung kann zunächst nur in lokalen und regionalen Kontexten durch gemeinsame Kampferfahrungen und damit einhergehende Solidarisierungsprozesse aufgehoben werden. Diese Assoziationen müssten sich mit globalen Föderationen von verschiedenen sozialen Gruppierungen verbinden, die weltweit aktiv sind, wie z.B. den Automobilarbeitern. Es handelt sich also um eine komplexe Transformationsperspektive, die nicht mehr von einer führenden Schicht der Ausgebeuteten ausgeht, die dann Bündnispartner mitnimmt, sondern um ein Multiversum, das immer differenziert bleibt und trotzdem eine gemeinsame Frontlinie findet.

Revolutionäre Sozialforen?
Ich glaube, die Ära der Sozialforen ist schon vorbei. Es geht um eine Ebene darunter, darum, in die soziale Wirklichkeit zurückzukehren und von da aus zu agieren. Da geht es dann um Selbstbestimmung und Abbau von Hierarchien und eben nicht um politische Repräsentation. Die Ebene der politischen Repräsentation und der neoliberalen Bündnisse ist zu verlassen.

Nicht nur Stellvertreterpolitik, sondern auch politischem Avantgardismus erteilen Sie bereits in der Einleitung des Buches eine Absage. Muss aber nicht dennoch ein weltweites Zentrum der Kommunikation und Assoziation des Multiversums her?
Es geht zunächst darum, die lokal-regionale Ebene tatsächlich zu assoziieren. Ohne die globalen Schnittstellen und eine globale Gegenplanung läuft das aber nicht. Von daher scheinen mir die globalen Föderationen sehr wichtig zu sein. Im zweiten Band meines Krisenbuches, an dem ich derzeit arbeite, will ich das weiterentwickeln und verschiedene praktische Erfahrungen einfließen lassen.

Sind Sie enttäuscht, dass die Solidarisierung innerhalb des Multiversums durch die Krise eher blockiert wird?
Im Augenblick ist die Krise tatsächlich eine Blockade, aber das ist historisch immer so gewesen. Aus der Arbeitergeschichte kann man aber nachweisen, dass dies sich im Übergang zum nächsten Konjunkturzyklus ändern könnte und wir uns darauf vorbereiten sollten. Auch Apathie, Ratlosigkeit und die Tendenz zu glauben, dass es die Nachbarn trifft und nicht einen selbst, können irgendwann in Rebellion umschlagen. Insofern verstehe ich auch »Über Marx hinaus« als einen Beitrag zu einer solchen Perspektive. Marx selbst hat in der Weltwirtschaftskrise von 1857 bis 1959 seine wissenschaftlichen Arbeiten und seine Artikel für die »New York Daily Tribune« als Beitrag zu einer antikapitalistischen Perspektive angesehen. Diese Aufgabe haben wir heute auch wieder.

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