Vor der Zäsur doch: Zensur

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.

Der 4. November 1989 erhob in der DDR die lang verspottete Gilde der Schild-Bürger in den Stand eines Adels: von wegen gedrückt und ergeben, von wegen willenlos. Die Schilder, die auf dem Alexanderplatz in Berlin erhoben wurden wie ein neu gewachsner Kopf, sagten der Partei die Meinung: »Volksauge sei wachsam! Reformbrot für die Stasi-Kantine! Sägt die Bonzen ab, schützt die Bäume! Lieber häufig übermüdet als ständig überwacht! Blumen statt Krenze!«

Jens Reich wird später diesen 4. November mit dem Großraumtheater der Ariane Mnouchkine vergleichen. Berauschende Unwirklichkeit, als sei Politik eine ekstatische Funktion der (Menschen-)Natur. Der Novembertag als leichtes Interregnum zwischen schweren Aufgaben. Heiner Müller wird ausgepfiffen, er verlas einen Fremdtext radikaler Arbeiterfreunde, der die gesteigerte Freiheit der Ausbeuter voraussah. Wer will das hören, beim DDR-Besuch von Marquis Posa: Genossen, gebt Gedankenfreiheit!

Ich erinnere mich an einen zwiespältigen Morgen: Denn es ist schwer, die Freiheit dort zu feiern, wo man sie zu drosseln mithalf. Volker Braun schreibt in seinem Tagebuch von damals: »wir nähren uns aus jeder zeitung von einbildung.« Das war das Urteil über einen Berufsstand. Unseren Berufsstand. Und aus dem Stand sprang der jetzt ins Freie? Hatte sich eben erst an einer Menthol-Zigarette verhustet, sog jetzt an freier Luft wie noch nie. Nun musste jeder ...


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