Warum kein einziger Schuss fiel
Vom 9. Oktober zum 9. November '89. NVA und Grenztruppen der DDR in der Herbstrevolution
»Da waren 70 000. Sie mussten mit dem Schlimmsten rechnen, denn es gab klare Drohungen ... In den Betrieben wurden die Belegschaften angewiesen, die Innenstadt zu meiden, denn da werde Blut fließen. In den Schulen wurde den Kindern gesagt: Geht nicht in die Stadt heute, da könnte ›etwas Schlimmes‹ passieren. Das Wort von der ›chinesischen Lösung‹ machte die Runde – vom Massaker auf dem Tiananmen-Platz. Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.« Dieses Schreckenszenario malte unlängst, am 9. Oktober auf einem Festakt in Leipzig, Bundespräsident Horst Köhler – der am 9. Oktober 1989 nicht in Leipzig war. Wie war es wirklich? Wären Panzer der Nationalen Volksarmee der DDR gegen Demonstranten aufgefahren?
»Keine Gewalt!«
Nicht zu bestreiten ist, dass im Herbst 1989 die Gefahr eines Bürgerkrieges oder gar einer militärischen Ost-West-Konfrontation bestand. Der Wunsch und die Forderung »Keine Gewalt« setzten sich durch, weil letztlich beide Seiten, das Volk und der Staat, daran interessiert waren. Und selbst wenn die damalige DDR-Führung einen Einsatz der Armee erwogen hätte, so wäre dieser ein Verfassungsbruch gewesen. Die Verfassung der DDR wie auch das Selbstverständnis der NVA sahen keine innere Funktion der Streitkräfte vor. Artikel 7.2 der Verfassung verbot jedwede Art von militärischem Einsatz im Inneren. Die NVA war auf eine solche nicht vorbereitet. In der Verfassung der DDR und dem auf ihr basierenden Verteidigungsgesetz waren ebenso – im Unterschied zu anderen osteuropäischen Staaten – »Ausnahmezustand« und »Staatsnotstand« nicht vorgesehen. Verfassungsgemäß lehnte denn auch Egon Krenz im Herbst '89 ein mehrfach geäußertes »Hilfsangebot« des Oberbefehlshabers der Westgruppe der Sowjetarmee, Armeegeneral Snetkow, strikt ab.
Zudem hatte, wie der Militärhistoriker Wolfgang Scheler 1995 in einer Studie ausführlich begründete, auch das Militär in der DDR in den 80er Jahren eine Sinnkrise erfasst, hervorgerufen durch die »revolutionierende Veränderung des Verhältnisses von Politik und militärischer Gewalt im Atomzeitalter«. Der Mensch hatte die Fähigkeit erlangt, sich als Art auszulöschen. Das beförderte ein neues Denken bei Politikern und Soldaten. »Dem geistigen Bruch, den die politische Revolution auslöste, waren also schon Brüche im Selbstverständnis des Soldaten vorausgegangen«, schreibt Scheler, einst Leiter des Lehrstuhls Philosophie an der Militärakademie »Friedrich Engels« in Dresden, der in den 80er Jahren mit seinem Wissenschaftlerteam um ein neues ethisches Denken in den DDR-Streitkräften bemüht war.
1987 war für das östliche Militärbündnis eine neue Militärdoktrin formuliert worden. Die Wehrmotivation wurde »nicht mehr aus einem möglichen Krieg, sondern aus dem notwendigen Frieden« hergeleitet. Ost und West näherten sich dem Konsens, dass nicht mehr Abschreckungsfrieden, sondern Verständigungsfrieden die Alternative zu einem die Menschheit auslöschenden Krieg sei. Im Geist der sich entwickelnden Sicherheitspartnerschaft und im Rahmen von vertrauensbildenden Kontrollaufgaben kam es im März 1989 in Hamburg zu offiziellen Begegnungen von Soldaten der NVA und Bundeswehr. Das alles beeinflusste den politisch-moralischen Zustand und das Handeln von NVA-Angehörigen in der Herbstrevolution 1989 und auf den Weg in die deutsche Einheit.
Hektische Telefonate
Zudem blieben Soldaten und Offiziere natürlich nicht unbeeinflusst von der Stimmung in der Gesellschaft, der sie angehörten. Die Bürgerproteste und Massendemonstrationen wurden von ihnen mehrheitlich nicht als eine »konterrevolutionäre Bewegung« begriffen. Werner Rothe, einst Chef der Politischen Verwaltung der Landstreitkräfte, erinnert sich, dass nach ernsthafter Beschäftigung mit den Forderungen der Bürgerrechtler »zumindest ein Nachdenken« einsetzte, »weil es ja bekanntlich nicht um die Liquidierung der DDR ging, sondern um eine ›bessere DDR‹. Warum sollte man nicht mit Menschen reden, die für eine bessere DDR Ideen und Vorschläge unterbreiten.« Gerade deshalb sahen sich die Soldaten in der Pflicht, sich nicht widersinnig gegen das Volk und somit auch gegen sich selbst zu wenden, sondern durch hohe Disziplin in den Kasernen und an ihren Standorten den friedlichen Verlauf des demokratischen Aufbruchs zu sichern. Die Sicherung der militärischen Einrichtungen, vor allem der Waffen und Technik, vor unbesonnenem Zugriff blieb freilich als Aufgabe bestehen.
Nach dem 7. Oktober 1989 in Berlin, den gewaltsamen Einschreitungen und »Zuführungen« durch Polizei und MfS, war die Gruppe um Egon Krenz im SED-Politbüro bemüht, bei der Montagsdemonstration in Leipzig zwei Tage später jeglicher Konfrontation von Demonstranten und Ordnungskräften vorzubeugen. Hektische Telefonate wurden zwischen Berlin und Leipzig geführt. Krenz berichtet darüber in seinem Buch »Herbst 89«. Auf seine persönliche Weisung hin schickte die Bezirkseinsatzleitung Leipzig die Volkspolizei unbewaffnet in den Einsatz – ein in der deutschen Geschichte und auch heute einmaliger Vorgang. Der 9. Oktober in Leipzig blieb friedlich.
Um keinerlei weitere Risiken in der angespannten und aufgeheizten Situation einzugehen, haben dann – noch vor der Entmachtung von Erich Honecker – der damalige Sekretär für Sicherheitsfragen im ZK der SED, also Krenz, und der Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates Generaloberst Fritz Streletz für die nächste, am 13. Oktober zu erwartende Leipziger Montagsdemonstration den Befehl 9/89 ausgearbeitet. Wird hierin zwar noch bestätigt, »alle Maßnahmen vorzusehen, um geplante Demonstrationen im Entstehen zu verhindern«, so heißt es doch auch klipp und klar: »Der aktive Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel erfolgt nur bei Gewaltanwendung der Demonstranten gegenüber den eingesetzten Sicherheitskräften bzw. bei Gewaltanwendung gegenüber Objekten auf Befehl des Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung Leipzig. Der Einsatz der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.« Im Konsens mit den für die innere Sicherheit verantwortlichen Generalen des MfS und des Ministeriums des Inneren sowie dem Leiter der Abteilung Sicherheit des ZK der SED, Wolfgang Herger, suchten Krenz und Streletz den Noch-Generalsekretär und Noch-Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates in dessen Arbeitszimmer zwecks Unterzeichnung des Befehls 9/89 auf. Honecker unterschrieb unter dem Druck der Ereignisse.
Der Befehl 11/89
Nach dessen Sturz informierte der neue SED-Generalsekretär Krenz den sowjetischen Partei- und Staatsführer Michail Gorbatschow über die Entscheidung der DDR, von Schusswaffen auch an der Grenze im Falle eines Durchbruchs von Demonstranten nicht Gebrauch zu machen. Dies wurde im Befehl 11/89 fixiert. In dem nunmehr von Krenz als Nachfolger von Honecker auch im Amt des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR unterschriebenen Dokument vom 3. November heißt es: »Durch die Bezirkseinsatzleitungen der Grenzbezirke sind die erforderlichen Maßnahmen vorzusehen, damit Demonstranten nicht in das Grenzgebiet eindringen. Im Falle eines solchen Eindringens sind die Demonstranten durch Anwendung körperlicher Gewalt und geeigneter Mittel daran zu hindern, dass es zu Grenzdurchbrüchen kommt ... Die Anwendung der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.«
Die Bewährungsstunde folgte alsbald – am 9. November, nachdem SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf der internationalen Pressekonferenz die sofortige Öffnung der Grenzen verkündete. Als sich unmittelbar darauf mehrere tausend Bürger auf die Berliner Grenze zubewegten, waren weder die Entscheidungsträger im Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR (die Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chefs der Teilstreitkräfte sowie der Chef des Kommandos der Grenztruppen der DDR) noch die Soldaten an den Grenzübergangsstellen informiert. Geschweige denn die sowjetischen Staatsführung und der sowjetische Generalstab. Streletz resümierte später in einem noch unveröfffentichten Manuskript: »Diese unverantwortliche Handlungsweise eines führenden Politikers der DDR, egal welche Zielstellung ihr zugrunde lag, hat die DDR an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht. Nur dem politisch bewussten und besonnenen Verhalten und Handeln der Angehörigen der Grenztruppen in Berlin und der strengen Einhaltung des Befehls 11/89 – kein Einsatz der Schusswaffe durch die bewaffneten Organe – ist es zu verdanken, dass es zu keiner Eskalation der Ereignisse mit schwerwiegenden, tragischen Vorkommnissen gekommen ist. Ein Schuss an der Grenze hätte eine Katastrophe, eine Kettenreaktion auslösen können.«
»Mit allem Respekt«
Es blieb ein Quäntchen Ungewissheit und die Angst vor Eskalation und Exzessen, die nicht unberechtigt war. Horst Stechbarth, in diesen Tagen Chef der Landstreitkräfte, erinnert sich, am Vormittag des 10. November 1989 vom Verteidigungsminister Heinz Keßler den Befehl erhalten zu haben, für die 1. Mot.-Schützen-Division und das Luftsturmregiment die erhöhte Gefechtsbereitschaft auszulösen – jedoch eingeschränkt auf LKW, SPW und Fußtruppen. Am darauffolgenden Tag sei er vom Minister gefragt worden, ob er zwei Mot.- Schützenregimenter nach Berlin führen könne. Dagegen habe er strikte Bedenken vorgebracht und auf dann wohl unvermeidliche Zusammenstöße mit Demonstranten verwiesen. Stunden später wurde die erhöhte Gefechtsbereitschaft für die genannten Truppenteile wieder aufgehoben. Das Problem, dass Keßlers Erwägung zugrunde lag, war: Westberliner hatten Abschnitte der Mauer besetzt. Gemeinsam mit dem Westberliner Polizeipräsidenten konnte diese Konfliktsituation friedlich gelöst werden.
Entgegen vielfach geäußerten Behauptung hat es nie eine Option zur erneuten Schließung der Grenzübergangsstellen gegeben. Im Gegenteil: Bis Weihnachten/Silvester 1989 wurden von den Grenztruppen 127 Grenzübergangsstellen zur Bundesrepublik und Westberlin neu eingerichtet sowie Sperrgräben beseitigt.
Klaus-Dieter Baumgarten, Chef der Grenztruppen der DDR, betont in seinen Erinnerung an den Abend des 9. November: »Es fiel in jener Nacht kein Schuß, die Lage wurde gemeistert. Das sage ich mit allem Respekt. Ich führe das auf den hohen Ausbildungsstand, die menschliche Reife und die charakterliche Stärke der eingesetzten Grenzer zurück. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Parole von den ›schießwütigen Grenzern‹ falsch und verlogen war, so wurde er vom 9. auf den 10. November 1989 erbracht.« Baumgarten verweist noch auf eine besondere Begebenheit an der Berliner Grenze: »Am Wochenende kam Richard von Weizsäcker, flankiert von Berlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper, durch einen Mauerspalt am Potsdamer Platz auf unsere Grenzer zu. Der Bundespräsident befand sich etwa 10 bis 15 Meter auf DDR-Territorium. Illegal sozusagen. Er schüttelte demonstrativ einigen Genossen die Hände und dankte ihnen für besonnenes Handeln und gute Zusammenarbeit. Kameras und Mikrofone hielten diesen Vorgang fest, als er Blumen und freundliche Worte verteilte … Tausende Grenzer sahen das im Fernsehen und werteten den Handschlag als Ausdruck ehrlicher Wertschätzung ihres Dienstes.«
Dr. Horst Klein ist Philosophiehistoriker; ein ausführlicherer Beitrag von ihm zum Thema ist im neuen »Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung« (III/2009) zu lesen. Bestellungen an die Redaktion, Weydingerstr. 14-16, 10178 Berlin oder redaktion@arbeiterbewegung-jahrbuch.de.
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