»9. November hätte sich angeboten«

Historiker Döscher: Vielschichtiges Datum galt für Nationalfeiertag als belastet

  • Lesedauer: 3 Min.
Prof. Dr. Hans-Jürgen Döscher lehrt Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück. Er ist Autor eines Buches über die Novemberpogrome 1938, erschienen beim Ullstein-Propyläen Verlag (München/Berlin 2000).
»9. November hätte sich angeboten«

ND: Der 9. November ist für die Deutschen ein besonderes Datum. An welches Ereignis denken Sie zuerst?
Döscher: Es handelt sich um ein sehr sensibles Datum in der deutschen Geschichte. Ich denke an die verkorkste Revolution von 1918 beim Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, an den Versuch Hitlers 1923 von München aus die Macht zu erobern, an die antijüdischen Gewaltakte im November 1938 und nicht zuletzt an den Fall der Berliner Mauer 1989.

Die meisten beschäftigen sich heute nur mit dem Mauerfall …
In den Medien und für die jüngere Generation dominieren zur Zeit fraglos die Ereignisse vor 20 Jahren.

Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl hat den 3. Oktober als Nationalfeiertag durchgesetzt. Welches Interesse verbirgt sich dahinter?
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 hätte sich in der Tat als Nationalfeiertag angeboten, aber die Erinnerungen an die historisch-politischen Belastungen in den Jahren 1918, 1923 und 1938 sprachen dagegen. Der 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit war historisch unbelastet.

In historischen Untersuchungen werden die Ereignisse in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 meist als »Reichskristallnacht« bezeichnet. Wie kam es dazu?
Das Wortungetüm »Reichskristallnacht« ist im schnoddrigen Berliner Volksmund entstanden nach dem 10. November 1938, als viele Straßen im Westen Berlins mit Kristallglas und Schaufensterscheiben aus demolierten Wohnungen und Geschäften jüdischer Eigentümer überhäuft waren. Es verharmlost und beschönigt die reichsweiten Gewalttaten der Nationalsozialisten, da nicht nur Sachwerte beschädigt, sondern auch Synagogen zerstört wurden und außerdem unschuldige Menschen zu Tode kamen.

Langsam scheint sich der Begriff »Reichspogromnacht« durchzusetzen. Wie bewerten Sie das?
Der Terminus »Reichspogromnacht« ist frei von euphemistischen und ironischen Färbungen. Er betont die reichsweite Ausdehnung der judenfeindlichen Ausschreitungen, bezieht diese aber nur auf die Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Gegen diese Beschränkung ist einzuwenden, dass fanatische Antisemiten der nationalsozialistischen Parteibasis erste Pogrome bereits am 7. und 8. November inszenierten – sozusagen in vorauseilendem Gehorsam, also unmittelbar nach Bekanntwerden des Attentats auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris und noch vor dessen Tod am 9. November.

In welchen Städten dauerten die Pogrome länger an?
Pogromähnliche Gewaltakte waren über den 10. November hinaus zum Beispiel in Breslau und besonders exzessiv in Wien zu beobachten.

Wenn »Reichspogromnacht« die Geschehnisse rund um den 9. November 1938 nur unpräzise bezeichnet – haben Sie einen Alternativvorschlag?
Der Terminus »Novemberpogrome 1938« beschreibt zutreffend die über eine Nacht hinausgehenden judenfeindlichen Terrorakte – auch in Abgrenzung zu den pogromähnlichen Vorgängen im Frühjahr und Sommer 1938 in fast allen Regionen des »Großdeutschen Reiches«, vor allem im »angeschlossenen« Österreich.

Fragen: Volker Stahl

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