Auf der Suche nach Selbstbesinnung in Kassel
Bundesweiter Basis-Ratschlag will die SPD wieder stark machen – 14 Thesen zu Lage und Zukunft der Partei
Kritisiert wird schon in der Einladung »ein Jahrzehnt anhaltender Basta- und Abnick-Politik«, die zu einem anhaltenden Niedergang der SPD geführt hätten. Und auch der »überfallartige Ringtausch des Führungspersonals«, der »ohne jede Atempause« unmittelbar nach dem Wahldesaster stattgefunden habe. »Zu befürchten ist, dass die überfällige Selbstbesinnung der SPD auf ihre Identität als Trägerin der für die Gesellschaft unverzichtbaren sozialdemokratischen Idee und Praxis erneut vernachlässigt wird«, heißt es in dem Papier.
Und genau dem wollen die Organisatoren des Basis-Ratschlages von Kassel – die Wert darauf legen, dass es sich dabei um kein Flügeltreffen handelt – entgegenwirken. Unter den Einladern sind SPD-Promis wie Hermann Scheer, Ottmar Schreiner, Ortwin Runde. Diskussionsanstöße wollen unter anderem Rudolf Dreßler und Andrea Ypsilanti geben. Und dann soll es zur Sache gehen. Denn die Ratschlagenden sind nach dem 23-Prozent Wahlergebnis der SPD zur Bundestagswahl am 27. September felsenfest überzeugt: »Die Gesamtheit der Mitglieder braucht eine schonungslos offene Aussprache, die nicht schon wieder mit dem vordergründigen Argument unterlassen werden darf, dass dies das Führungspersonal beschädigen würde.«
Brauchen wir nicht, haben wir schon genug, sollen sie doch – mit diesen eher abschätzigen Kommentaren aus dem Berliner Willy-Brandt-Haus und seinem Umfeld sollte den Kassel-Fahrern schon vorab der Wind aus den Segeln genommen werden. Und nicht zuletzt von jenen, die sich von der Basis mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, sie hätten in den letzten Jahren eine »Privatisierung der Partei« und eine »Vorbestimmung ihrer Willensbildung über den Umweg der Medien« betrieben.
Dabei müsste die Verheißung des Thesenpapiers für die Beratung in Kassel der scheidenden wie kommenden SPD-Führung gefallen. »40 Prozent sind möglich«, heißt es da. Allerdings mit dem Zusatz »als linke Volkspartei«. Und damit dürfte der eine oder andere Spitzen-Genosse seine Schwierigkeiten haben, der vom Dresdener Parteitag vor allem eines erwartet: die Würdigung der sozialdemokratischen Erfolge als Regierungspartei seit 1998. Ungeachtet der Tatsache, dass die SPD seither die Hälfte ihrer damals 20 Millionen Wähler verloren hat.
In »14 Thesen zu Lage und Zukunft der SPD« haben Stefan Grönebaum und Stephan Grüger die Ursachen dafür in besagter schonungsloser Offenheit aufgelistet. »Das Wahlergebnis ist ein beispielloses Debakel und verbietet jedes ›Weiter so‹«, heißt es da. Oder auch: »Die Schröder-SPD und ihr Kurs der Anpassung an den neoliberalen Mainstream sind krachend gescheitert.« Getreuliches Mittragen »unsozialer Drecksarbeit« in der Großen Koalition, »erbärmliche Glaubwürdigkeits- und Kompetenzwerte«, »marktverliebte Mittelschichtpartei«, Aufgabe der Arbeitnehmerperspektive – die in Kassel zur Debatte stehende Analyse der SPD-Regierungstätigkeit ist alles andere als schmeichelhaft.
Die SPD müsse sich entscheiden, ob sie weiter mediale Kaderpartei oder wieder Volks- und Programmpartei sein wolle, fordern die Verfasser der Thesen. Bisher habe es noch Lippenbekenntnisse zur Volks- und Mitgliederpartei gegeben, die Führung aber agiere bereits weitgehend abgekoppelt – Gremien seien oft nur Testrunden, Parteitage dienten der nachträglichen Absegnung von Entscheidungen. Fahre die SPD mit diesem Führungsansatz fort, gingen ihr auch noch die letzten demokratisch engagierten Aktiven und Mitglieder von der Fahne.
Apropos Abgänge. In den Thesen ist freilich auch von der »defensiven Haltung der SPD-Führung« gegenüber der linken Konkurrenz die Rede – die insbesondere in westlichen Bundesländern bekanntlich seit Jahren einen starken Zulauf aus der SPD erhält. »Die Schröder-SPD trieb seit 2003 Gewerkschafter, linke Intelligenz sowie Arbeiter- und Unterschichtwähler der WASG bzw. der Linkspartei zu«, konstatieren die SPD-Rebellen. Die Linkspartei bekämpfe man jedoch weder mit Totschweigen noch Ausgrenzung, sondern mit attraktiver Politik und konkreten Projekten. »Das beginnt damit zuzugeben, dass SPD und LINKE inhaltlich mehr eint (wie weiland SPD und Grüne) als SPD und Union.«
Natürlich sollen die Genossen, die morgen nach Kassel fahren, nicht nur mit Wut im Bauch nach hinten blicken. Deshalb haben These 12, 13 und 14 auch einen optimistischen Grundtenor: »Eine andere Politik ist möglich«, »Vierzig Prozent sind machbar« und »Für einen Aufbruch in die soziale Moderne«, heißt es da. Ob das allerdings der Parteispitze reichen wird, ihren Argwohn gegen den Basis-Ratschlag fallen zu lassen, darf heftigst bezweifelt werden.
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