Protestieren und streiken wie in Österreich

An der Humboldt-Universität im Herzen Berlins haben Studierende das Auditorium-Maximum besetzt

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die bronzene Büste Georg Wilhelm Friedrich Hegels hat Patina angesetzt – seit 1872 gibt es das Denkmal des brillanten Dialektikers auf einem kleinen Platz hinter der Humboldt-Universität. Studierende haben der Philosophen-Büste einen Zettel anklebt: »Bildungsstreik 2009. HU-Berlin besetzt. Wir sind hier, wo seid ihr?!« ist auf einem knallorangen Zettel zu lesen. Um 14 Uhr ist man schon mal schlauer, wer alles »wir sind hier« ist. Denn hunderte Studierende, zumeist jüngeren Semesters, drängeln sich im »Auditorium Maximum« im Ostflügel der Universität. Da es zu wenig Sitzplätze gibt, machen es sich einige in den Gängen auf dem Boden gemütlich. 50 Hartgesottene haben hier sogar die Nacht verbracht. Am Abend zuvor hatten sie das »Audimax« besetzt.

Die Universitätsleitung reagierte zunächst mit Unverständnis. Die Polizei wurde alarmiert, Zugänge wurden versperrt und Taschen kontrolliert. »Etwas, was es an der Humboldt-Universität seit der Wende nicht mehr gegeben hat«, wie eine Studentin auf dem Podium vor ihren Kommilitonen spitz bemerkt. Nach der ersten Konfrontation hatte sich die Situation allerdings beruhigt. »Solange wir nett, sauber und friedlich sind, wird es keine Räumung geben«, überbringt dieselbe Frau unter Jubel die frohe Botschaft aus den Verhandlungen. Die Studierenden der HU wollen sich nun erst mal Zeit nehmen, um sich zu organisieren: Sie gründen Aktionsgruppen, diskutieren ihr Vorgehen.

Eine besonders agile Gruppe formulierte gestern bereits 95 Forderungen, die sie an die Tür von HU-Präsident Christoph Markschies, der auch evangelischer Theologie-Professor ist, nagelte. Das solle andere dazu bewegen, ebenfalls aktiv zu werden, rief ein Mitglied der Thesenanschläger auf.

Dass es jetzt so spontan zu Besetzungen an den Berliner Hochschulen kommt, ist einigermaßen überraschend. Denn bisher waren Bildungsproteste erst für die kommende Woche vorgesehen: Am Dienstag wollen Studierende und Schüler erneut vor das Rote Rathaus ziehen – bereits im Sommer waren während des »Bundesweiten Bildungsstreiks« auch in Berlin Tausende auf die Straßen gegangen. Die damaligen Proteste lösten auch im Nachbarland Österreich Widerstand aus, der sich inzwischen seit Monaten dort Bahn bricht. Jetzt schwappen die Uni-Streiks und Besetzungen nach Deutschland und auch in die Hauptstadt zurück.

Das Vorbild Österreich ist auch im »Audimax« der Humboldt-Univerrsität auf Schritt und Tritt präsent: »Wir machen die Pressearbeit wie in Wien«, schlägt etwa ein Student den Zuhörern vor. Ganz basisdemokratisch nämlich sollen so viele Studierende wie möglich in den Medien vorkommen. Dafür soll es eine Liste geben, auf der alle erfasst sind, die Interviews geben möchten. Nach einem Rotationsprinzip werden die Namen dann abgearbeitet. Gefilmt wird die Diskussion derweil vom ORF, dem österreichischen Fernsehen, das sein Berliner Team in die Humboldt-Uni entsandt hat, um die Besetzung zu dokumentieren.

Erstaunlich zielgerichtet diskutieren die Studierenden ihr weiteres Vorgehen. Zunächst soll die Besetzung übers Wochenende aufrechterhalten werden. Mit Werbung wie Flugblättern und Plakaten möchte man an die restlichen 30 000 Studierenden der Humboldt-Universität herantreten, um sie zum Mitmachen zu bewegen.

Neben der Mobilisierung und dem großen Ganzen gibt es an der Humboldt-Uni aber auch eigene Problematiken. »Obwohl es zu einigen Themen des sommerlichen Bildungsstreiks bereits seit Monaten Beschlüsse des Akademischen Senats gibt, gehen diese bisher kaum über Absichtserklärungen hinaus«, erklärt Gerrit Aust vom RefRat, wie die Studierendenvertretung hier heißt. Den HU-Studierenden wäre es etwa ein Anliegen, dass die Anwesenheitskontrollen in Seminaren verboten werden. Auch die »Funktionsstörungsatteste« gehörten aufgehoben, da sie ganz klar gegen den Datenschutz verstoßen würden, sagt Aust. Neben diesen Dingen stünden aber natürlich die Forderung des bundesweiten Bildungsstreiks nach besserer Ausstattung und mehr Demokratie oben auf der Agenda.

Es werde Zeit, sagt Gerrit Aust, dass der akademische Senat der HU endlich seinen Worten Taten folgen lasse. Aust selbst hat heute alle Hände voll zu tun, die Pressegruppe nach österreichischem Vorbild funktioniert noch nicht – und ein RBB-Fernsehteam wartet. Im Hintergrund des Fernsehbildes thront die Büste von Hegel, der knallorange Flyer klebt noch.

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