Schwellfuß und Schwellhals
Dimiter Gotscheff inszenierte am Thalia Theater Hamburg »Ödipus, Tyrann« von Heiner Müller nach Sophokles
Über der Bühne, einem bis zur Brandmauer aufgerisssenen Loch, schwebt eine Art gelber Punchingball, oder ist es die Pestbeule über Theben? Sozusagen der Damoklessack, der an unsichtbaren Fäden bewegt wird und mitunter genau über den Menschen ausschwingt.
Die Menschen. Das ist der Chor, Thebens Bürger, eine Truppe von Schauspielschülern, vom Chorführer (Patrycia Ziolkowska) dirigiert, eine vibrierende, schreiend panische, marionett zuckende, Sprachfetzen ausatmende Masse. Sie bedrängt den König Ödipus, und der, Herrscher von Theben, sitzt auf seinem Hocker, wie beschienen von einer Sonne, die er selber ist. Kriegerkalt. Eingreiftruppler. Die Bedingung der Götter, um die Stadt zu retten, wird er erfüllen: Er findet den Mörder des einstigen Königs Lajos. Her mit dem Fall, sagt Ödipus, ich löse ihn!
Sein Fall wird ihn fällen. Denn der Mörder war er selbst, ungewollt, arme Spielfigur in einer bösen Prophezeiung. Nun kommt er, fragend, bohrend, barsch andere anklagend, Stück um Stück sich selber näher. Aber wer sich selber herznah kommt, trifft auf – Schuld. Zum Tyrannen wird, wer meint, sich im Duster weltbildender Ereignisse die Sonderkarriere eines Geschichtsbeherrschers erlauben zu dürfen. Das ist, womit Heiner Müller Hölderlins Übertragung des »Ödipus« von Sophokles modern verschärfte.
Oda Thormeyer schickt, der eiserne Vorhang ist noch geschlossen, den Prologtext mit unbeirrt proklamatischer Stimme weit über das Publikum in die Ferne. Dort wird auch die kluge, intensive Aufführung stattfinden: in den hermetischen Räumen eines poetischen Disputs, quasi unterm Sternenbild des Gewesenen, das uns noch immer trifft, ohne uns wirklich zu erleuchten für Läuterungen.
Dimiter Gotscheff, Deutschlands großer, treuer, trauriger, sendungsbeseelter Heiner-Müller-Regisseur, hat am Thalia Theater Hamburg »Ödipus, Tyrann« inszeniert (Bühne: Mark Lammert). Bernd Grawert in der Titelrolle ist ein grandios kantiger Kerl, eher Söldner als König, eher Arbeiter als Herrscher. Ein herrischer Arbeiter an der eigenen Absolutsetzung. Er trägt zum drillichmeerblauen T-Shirt schwarzen Schlabber, alle tragen schwarzen Schlabber. Grawerts Ödipus wälzt sich anfangs stöhnend herein, ein virtuoses Krüppel-Knäuel, sein Robben von ganz hinten, aus einem Fahrstuhlschacht, nach vorn auf die Bühne: ein geradezu spannender Wurmtanz. Diesem Ödipus sind als Kind die Füße verstümmelt worden, um ihm den Weg abzuschneiden in die Erfüllung des Orakels: Er würde den eigenen Vater töten, die eigene Mutter heiraten. Wir wissen, es hat trotzdem geklappt mit der Tragödie, das Schicksal lässt sich durch einen »Schwellfuß« nicht aufhalten, und fast jede menschliche Vorsorge arbeitet doch nur jener Katastrophe zu, die sie verhindern will.
Mit enthemmter Nüchternheit wühlt Grawerts König in der Wahrheit, die ihn frisst. Grawert hat für »Schwellfuß« ein faszinierendes Taktschlagen der klobigen Schuhe gefunden, aber natürlich springt er bald auf, pantherweich, selbstbewusst, als besitze er alle Welt, nur keine eigene Geschichte. Pflügt mit Händen die Luft, sticht mit Armschwüngen auf andere ein, dirigiert, weist zu; die Pranken sind Waffen, die das kräftige Selbstbild aus dem Raum schneiden.
Jener Bote (Oda Thormeyer), der Ödipus' letzte Hoffnung zerstreut, doch nicht der große Unglückliche zu sein – er steht in der Finsternis des Theaterrangs, Grawert spricht zu ihm über die Zuschauer hinweg nach oben, ein leichtlippiger Dialog, so redet ein von Gewissheit Beschwipster mit dem dunklen Schicksal; bitter berückend, wie diese Gewissheit leise wird, wie sie abebbt im Mundtrockenen, wie die Ansprache ins Flattern kommt. Und mählich, aber unaufhaltsam, in der furchtbaren Wahrheit versinkend, wird Schwellfuß zum schier platzenden, angststarren Schwellhals.
Karin Neuhäuser ist Jokaste, die Mutter, die zur Frau des eigenen Sohnes wurde. Könnte diese Jokaste sehen, was die Neuhäuser zeigt, so sähe sie sich als Beweisstück – wie die Ehefrau doch immer Mutter blieb. (In dieser Frau übrigens steigt Sprache von der hohen poetischen Warte merkwürdig leichtsilbig herab.) Und wenn Neuhäuser dann, bleich, zur Magd wird, die vom Selbstmord der Jokaste erzählt, bekommt die zweistündige Aufführung ein brennendes Erschüttertsein. Bibiana Beglau schließlich ist Kreon, ist der blinde Seher Tiresias, ist ein Diener: drei Gestalten, und dreimal Beglaus Talent zur herben, eisglänzenden, dann wieder aufgedrehten Typisierung, ein fast manirierter Aufenthalt zwischen Castorfs Hysterie und Thalheimers Strenge.
Dimiter Gotscheffs Inszenierung begann mit dem Keuchen der Anstrengung, sie endet mit Ödipus' Kichern der Erlösung. Mit ehrgeizigem Sinn wahnte der Mann durch die Inszenierung, bis zum Punkt der Auslöschung – dorthin, wo der Wahn das letzte ist, das noch Sinn hat. Ödipus nimmt sich das Augenlicht heraus wie eine abschließende Freiheit; wieder der Wurmtanz, aber dann – aufrecht wie nie! – tänzelt er ins Nichts. Vielleicht begegnet dieser Kerl da irgendwann seinem augzerstörten Shakespeare-Bruder Gloster; denn Theben, Lears Heide und die Klippen von Dover – alle Orte aller Zeiten gehören zur großen Ortlosigkeit, wo Menschen bestraft werden, dass sie die Wahrheit suchen, aber nicht finden, oder Menschen büßen müssen, indem sie auf die Wahrheit stoßen, die sie nicht wissen wollen. Die Welt war früh eine globalisierte, nämlich im Nichtbegreifen des Wichtigen: Geschichtlich sinnvolle Tätigkeit ist nicht Beschleunigung, sondern Verzögerung der Dinge, die doch immer nur auf ein Ende zulaufen, nicht aufs Heil. Zum Tyrannen wird, wer Geschichte macht, als sei sie ein Programm, das die eigene Lebenszeit krönen könnte. Jesus warnend im Matthäusevangelium: »Wenn die Tage nicht abgekürzt werden, würde kein Mensch gerettet werden.« Den Ball flach halten. In Fragmenten denken, in Vorläufigkeiten, in eigenen Begrenzt- und Beschränktheiten. Du bist du selber nur in vielen Varianten von Gut und Böse. Das ist die Erkenntnis des Ödipus, während ihm das Blut aus den Augen rinnt.
Nein, bei Gotscheff rinnt kein Blut, Grawert hat sich einfach nur den dünnen Pullover über den Kopf gezogen, ein alter Hiphopper, und als er den Pullover wegzieht vom Gesicht, lacht der Kopf, in besagtem Irrwitz. Kein langes Schlusswort mehr, bloß noch jenes beschwingte Wegtänzeln, ein endlich freier Mensch. Nun ebenfalls ein blinder Seher – in die eigene Vergangenheit, und mit diesem Blick ist alle Zukunft besetzt.
Ich denke an Müllers Satz im Stück »Gespenster am Toten Mann«: »Dunkel Genossen ist der Weltraum sehr dunkel.« Gagarins Satz. Der Kosmonaut, der Aufsteigende, in diesem Moment sehr nah am Untergeher Ödipus – indem er von oben keine Hymne des Erfolgs, sondern ein Erschrecken mitteilt.
Nur wenn wir sie vor den Anmaßungen schließen, die uns das reizbare Bewusstsein einflüstert, gehen uns die Augen auf. Also meist sehr spät.
Nächste Vorstellung: 9. und 12.12.
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