Sozial ungerecht von Anfang an

Probleme des Bildungswesens werden auf den vermurksten Bologna-Prozess reduziert

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 5 Min.
Was läuft falsch in der Bildungsrepublik Deutschland? Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Jedenfalls nicht in Zeiten einer verkorksten Bologna-Reform, gegen die zur Zeit Studierende (auch) Sturm laufen.

Interessanterweise sind sich konservative und linke Kritiker der Bologna-Reform in einem Punkt einig: Die Einführung der gestuften Studienabschlüsse Bachelor und Master hat die Universitäten zu einem Ort gemacht, an dem wissenschaftliche Bildung einer spezialisierten Berufsqualifizierung weichen musste. Die Hochschulpolitik habe, so der FAZ-Redakteur Jürgen Kaube im Vorwort seines neuesten Buches, Studiengänge erzwungen, »die nicht allgemeine Bildung, also allgemeine Berufsbefähigung ins Auge fassen, sondern Teilbereiche von Teilbereichen«.

Das ist auch die Kritik vieler linker Studierender sowie des deutschen Hochschulverbandes. Die konservative Standesorganisation der Professorenschaft hat sich vor Wochenfrist den Protesten der Studierenden angeschlossen. In einer Erklärung setzte sich der Verband u.a. für »mehr Freiräume durch weniger Prüfungen« ein und forderte die Lehrenden an den Universitäten auf, am gestrigen Donnerstag ihre Lehrveranstaltungen zu verschieben, um den Studierenden die Möglichkeit zu geben, an der Demonstration in Bonn gegen die Kultusministerkonferenz teilzunehmen.

Den Studierenden geht es allerdings um mehr als nur um bessere Studienbedingungen, weniger Prüfungen und vergleichbarere Studienabschlüsse. Die Solidaritätsadressen von Politikern, der KMK und der Hochschulrektorenkonferenz blenden andere Probleme des Bildungssystems aus. Zum Beispiel Studiengebühren. Sieben unionsgeführte Bundesländer haben in den vergangenen Jahren beschlossen, Studenten mit 500 Euro pro Semester zur Kasse zu bitten. Bundesweit konnte sich das Modell jedoch nicht durchsetzen. Statt Initialzündung für eine von der Union und der FDP erhoffte Ausweitung des Gebührensystems zu werden, bröckelt es. Hessen war das erste Land, das allgemeine Studiengebühren wieder abschaffte. Vor wenigen Tagen kündigte auch die neue schwarz-gelb-grüne Landesregierung im Saarland einen Verzicht an. »Wir garantieren saarländischen Studierenden ein gebührenfreies Studium ab dem kommenden Sommersemester«, sagte Wissenschaftsminister Christoph Hartmann (FDP) am Dienstag in Saarbrücken.

Das Einlenken hat gute Gründe. So flohen in den vergangenen Jahren viele Studierwillige vor der Uni-Maut in die Länder, die auf Gebühren verzichten. Und selbst die Bundesregierung musste die abschreckende Wirkung von Studiengebühren eingestehen. Nach einem Ende 2008 veröffentlichten Papier des Bundesbildungsministeriums haben allein vom Abiturienten-Jahrgang 2006 rund 18 000 Schulabgänger wegen der Gebühren auf ein Studium verzichtet. Die Mehrheit davon stammt aus eher einkommensschwächeren Schichten. Die soziale Ungleichheit im Bildungssystem nehme zu, kritisiert deshalb der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks (DSW), Achim Meyer auf der Heyde. Die deutschen Hochschulen befinden sich aber auch ohne Studiengebühren in einer sozialen Schieflage. Derzeit studieren nach DSW-Angaben 83 Prozent der Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern, aber nur 26 Kinder nichtakademischer Herkunft. Doch die soziale Auslese beginnt nicht erst am Eingang zum Uni-Campus. Das deutsche Schulsystem blockiert wie kaum ein anderes in Europa den sozialen Aufstieg über das Bildungssystem. Früher als anderswo werden Kinder auf Haupt- und Realschulen, Förderschulen sowie die Gymnasien aussortiert. Laut der Internationalen Grundschulstudie IGLU sind die Chancen eines Akademikerkindes am Ende der Grundschulzeit auf eine Gymnasialempfehlung 2,5 mal so hoch wie die eines Arbeiterkindes – bei gleicher Leistung!

Initiativen zur Reform des gegliederten Schulsystems haben es jedoch schwer. In Hamburg droht die von CDU und Grünen geplante Umstellung auf eine gemeinsame sechsjährige Grundschulzeit zu scheitern. Ein von der Gymnasiallobby initiiertes Volksbegehren war erfolgreich. Im Sommer 2010 kommt es zu einem Volksentscheid. Ähnlich sieht es im Saarland aus. Dort hat die Landeselterninitiative (LEV) Widerstand gegen die von der Jamaika-Koalition geplante Verlängerung der Grundschulzeit auf fünf Jahre angekündigt. Der LEV-Vorsitzende Joachim Klesen fordert stattdessen »Verbesserungen des bestehenden Gymnasiums«.

Auch in Berlin mussten die Befürworter eines längeren gemeinsamen Lernens eine Niederlage hinnehmen. Die von der Linkspartei unterstützten Gemeinschaftsschulen, in der Kinder bis zu Klasse 10 gemeinsam lernen, werden über die Modellphase nicht hinauskommen. SPD-Bildungssenator Jürgen Zöllner hat sich auf ein zweigliedriges Modell aus Sekundarschule und Gymnasien festgelegt. Aus Insiderkreisen heißt es, der Senator habe durchaus Sympathie für die Gemeinschaftsschule, scheue jedoch den Konflikt mit der Gymnasiallobby.

Studentenproteste

In den frühen Jahren der Bundesrepublik waren Universitäten Keimzellen der Rebellion. Das lag vor allem daran, dass der Zugang zu den Hochschulen einer zahlenmäßig kleinen, sozial im Bildungsbürgertum verankerten Elite vorbehalten war, aus der sich die künftige Führungsriege in Politik, Verwaltung und Wirtschaft rekrutierte. Entsprechend politisch relevant und brisant waren die Studentenproteste der späten 1960er Jahre.

Mit der Öffnung der Hochschulen unter der sozialliberalen Koalition ab 1969 verloren die Universitäten weitgehend diese Funktion als Eliteschmiede. Entsprechend veränderte sich auch die Wirkung, die Studentenproteste auf die Gesellschaft und die Politik noch ausüben konnten. Ein Nachhall einstiger studentischer Mächtigkeit war noch 1976 zu verspüren. Im sogenannten Ersatzgeld-Kampf verhinderten die Studierenden die Einführung von Studiengebühren. Unionsgeführte Bundesländer hatten geplant, für die naturwissenschaftlichen Studiengänge eine Uni-Maut zu erheben. Durch einen geschlossenen Boykott der Rückmeldegebühren wurde dies verhindert.

Bund und Ländern war es nach 1969 nicht gelungen, den Ausbau der Hochschulen zu Massenuniversitäten (heute nehmen mehr als 40 Prozent eines Jahrgangs ein Studium auf) so zu organisieren, dass die Universitäten wissenschaftliche Profession und Berufsfähigkeit gleichermaßen garantieren können. Dies verlängerte zum einen die Studienzeiten und führte zum anderen zu einer permanenten Unterfinanzierung des Hochschulsektors. Alle nachfolgenden Protestwellen an den Universitäten sind im Prinzip auf diesen Strukturfehler bundesdeutscher Bildungspolitik zurückzuführen. So der »Uni-Mut-Streik« im Jahr 1988, der im Protest gegen schlechte Studienbedingungen seinen Ausgangspunkt hatte, oder der »Lucky Strike« 1997. Partiell erfolgreich war in den folgenden Jahren der Widerstand gegen Studiengebühren. Auffallend ist, dass die zeitlichen Intervalle der bundesweiten Protestaktionen immer kürzer werden. jam

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