Bauern in Nadelstreifen

Auf Tokios Dächern richten sich Büroangestellte Gärten ein

  • Susanne Steffen, Tokio
  • Lesedauer: 3 Min.
Reis, Gemüse und Kräuter sind den Bewohnern von Tokio im Wortsinne zu Kopf gestiegen. Auf den Dächern der Hochhäuser werden immer mehr Dachgärten eingerichtet – als Hobby, aber auch ernsthaft zum Gemüse-Anbau.

Mittagspause im Finanzzentrum Tokios: Hayato Kashiwagi krempelt die Ärmel seines weißen Hemds hoch, bewaffnet sich mit einer Gartenschere und nutzt die Zeit für einen kurzen Besuch auf seinem Feld. Nur ein paar Minuten von seinem Arbeitsplatz entfernt hat der 25-Jährige zusammen mit einigen Arbeitskollegen eine Acht-Quadratmeter-Parzelle auf dem Dach eines Bürogebäudes gemietet. Zehn verschiedene Gemüse bauen die Hobbygärtner an. Heute ist Kashiwagi dran mit Unkraut jäten. »Wenn ich mich um das Gemüse kümmere, ist mein ganzer Stress wie weggeblasen«, erzählt Kashiwagi, während er ein paar Grashalme von seiner Bundfaltenhose klopft und auf die Bürohochhäuser nebenan schaut. Auf die Idee, sich mitten in der Zwölf-Millionen-Metropole gärtnerisch zu betätigen, hat ihn sein Chef gebracht, der ebenfalls ein Minifeld auf dem Dach einer großen Versicherungsgesellschaft gemietet hat. Die Gesellschaft hat ihr Dach in 24 Parzellen aufgeteilt, die sie an Hobby-Bauern aus den umliegenden Büros vermietet. Mittlerweile sind alle Parzellen vergeben, mehr als 30 Namen stehen auf der Warteliste.

Begrünte Dächer sind in Tokio heute keine Seltenheit mehr. Seit die Metropolregierung im Jahr 2001 eine Verordnung erlassen hat, die Gebäude mit einer Grundfläche von mehr 1000 Quadratmetern zwingt, ihre Dächer zu begrünen, findet man auf Shopping-Malls, Bürokomplexen und Wohntürmen alles von Reisfeldern bis Ziergärten. Bis 2006 haben die Tokioter etwa 100 Hektar Dachfläche begrünt – das entspricht 150 Fußballfeldern. Jedes Jahr kommen rund 20 Hektar hinzu. Diese grünen Oasen sollen helfen, die übermäßige Aufheizung des Stadtzentrums im Sommer zu mildern. Wie das Bauministerium in Experimenten herausgefunden hat, steigt das Thermometer auf Tokios Dächern im Sommer locker auf über 50 Grad Celsius. Eine Bepflanzung senkt die Temperatur um bis zu 20 Grad. So können die Klimaanlagen heruntergeschaltet werden, und man spart CO2-Emissionen.

Früher interessierten sich hauptsächlich Restaurants für die landwirtschaftliche Nutzung von Dächern. Viele werben damit, nur Gemüse vom eigenen Dach zu verwenden. Nachdem eine Serie von Lebensmittelskandalen das Vertrauen der Verbraucher erschütterte, beschäftigen sich zunehmend auch junge Städter mit dem Gemüseanbau. Ein völlig neuer Markt entsteht. Kommerziell bislang wertlose Dachflächen werden zur Goldgrube. Für ein Drei-Quadratmeter-Beet auf einem Bahnhofsdach im angesagten Tokioter Einkaufs- und Geschäftsviertel Shibuya zahlen Büroangestellte etwa 46 000 Yen (ca. 350 Euro) Miete für ein halbes Jahr. Da Platz in Tokio knapp ist, kommen manche Anbieter auf kuriose Ideen. Mitten auf der Omotesando, der Tokioter »Champs Elysées«, hat das Venture-Unternehmen Ginza Farm ein erstaunlich kostengünstiges Plätzchen für 16 Stadtbauern gefunden – auf dem Dach eines Friseursalons, der wiederum seinen Laden auf Stelzen über einem Münzparkplatz gebaut hat. Dank dieser effizienten Raumnutzung kann das Unternehmen die Parzellen in 1A-Lage zum Spottpreis von 16 000 Yen (120 Euro) pro Monat vermieten. Ein Personaldienstleister hat sogar einen ehemaligen Banktresorraum umfunktioniert.

Die landwirtschaftliche Nutzung von Dachflächen in Megastädten, in denen die meisten Bewohner keinen Garten haben, hat Zukunft, glaubt auch Kenji Takashio, Generalsekretär der Nonprofitorganisation »O-Edo Yasai Kenkyu-kai«, die Dach-Begrünungsmaßnahmen fördert. »Diese Dachgärten sind einfach praktisch. Die Leute müssen nicht lange fahren, um sich auf einem klassischen Bauernhof zu betätigen. Sie können diesem Hobby in ihrer täglichen Umgebung nachgehen«, sagt Takashio.

Für Sachbearbeiter Kashiwagi ist das gemeinsame Gemüsefeld mit Kollegen mittlerweile zu einem wichtigen Bestandteil seines Soziallebens geworden. »Am meisten freue ich mich auf unsere Erntefeste«, erzählt er. Einmal im Monat treffen sich die Hobbybauern zum gemeinsamen Kochen und genießen die Früchte ihrer Arbeit.

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