Das Gegenteil von Ruhestand
Seit mehr als zwölf Jahren beraten in Bremen ehrenamtliche Wirtschaftssenioren zukünftige Existenzgründer
Ich solle mich in erster Linie als Publizist verstehen. Mich nicht auf ein bestimmtes Medium festlegen. Und vor allem multimedial arbeiten. Das sei unabdingbar. Hans-Peter Gumprecht gibt Ratschläge. Auch mir. Obwohl ich doch gar nicht vorhabe selbstständig zu werden – beruflich, versteht sich. Der 70-Jährige mit der schwarzen Designerbrille ist Berater bei den Bremer Wirtschaftssenioren, einem 65-köpfigen Verein, der potenziellen Existenzgründern beratend zur Seite steht.
Untätig in der Rente – das kam nicht in Frage
Hans-Peter Gumprecht ist nach einer Lehre als Kaufmann beim Fernsehen eingestiegen. Fast 40 Jahre war er Produktionsleiter bei Radio Bremen. Unter anderem betreute er als Aufnahmeleiter die erste Sendung von Rudi Carrell sowie den ersten Beat Club – eine »Instanz« in den 60er und 70er Jahren im deutschen Fernsehen.
Als Gumprecht 60 Jahre alt wurde, fragte ihn sein Arbeitgeber, ob er nicht aufhören wolle. Zu der Zeit begann die kleine ARD-Anstalt ihre Programme einzudampfen. Sein Einsatz war plötzlich nicht mehr gefragt. Da kam es ihm ganz recht, dass ein Produzent auf ihn zukam und ihm ein reizvolles Angebot machte: Für neun Monate sollte er in Mexiko produzieren. Gumprecht, in Südamerika geboren und aufgewachsen, war begeistert. Im sonnigen Mexiko angekommen, war für ihn schnell klar: Radio Bremen ist Vergangenheit. Die Zukunft fängt jetzt an. Bis zu seinem 65. Geburtstag arbeitete der umtriebige Fernsehmann als Leiter von Seminaren, unter anderem für Kameraleute und Tontechniker. »Irgendwann aber dachte ich mir, es wäre wohl besser, sich zurückzuziehen. Die Medien sind ein sehr schnelllebiges Geschäft. Und meine Praxisferne machte mir zunehmend zu schaffen. Aber untätig in Rente zu gehen, so als ob man mit einem Schlag dumm und unbrauchbar geworden wäre, kam nicht in Frage. Über einen privaten Kontakt bin ich schließlich beim Bremer Senior Service gelandet.«
Im 1997 gegründeten Verein arbeiten ehemalige Führungskräfte wie Hans-Peter Gumprecht. 44 Branchen sind vertreten: darunter Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Handwerker, Einzelhändler. Nach Angaben des Bremer Senior Service wurden bis heute rund 4600 Fälle bearbeitet. Darunter viele ALG-I- und ALG-II-Empfänger.
Der 66-jährige Volker Klein ist seit September 2006 Vorsitzender des Vereins. Bevor er seine Tätigkeit bei den Bremer Wirtschaftssenioren aufnahm, arbeitete er in verschiedenen Positionen beim Ölmulti Shell. Unter anderem als Bezirksleiter, in der internen Revision und in verschiedenen Fachabteilungen. Als Shell im Jahr 1976 eine Tochtergesellschaft in Bremen gründete, wurde Klein zum Geschäftsführer ernannt. 2004 ging er schließlich unfreiwillig in den Ruhestand. »Bei Shell müssen alle leitenden Angestellten mit 60 in Rente gehen. Das schreibt die Betriebsordnung des Unternehmens so vor. Da muss man dann weichen. Obwohl doch Shell mein Leben war.«
Für Klein brach erst einmal eine Welt zusammen. Da wurde der Bremer Senior Service zum Rettungsanker in der Not. Ein Drei- vierteljahr vor Renteneintritt setzte er sich mit der Bremer Handelskammer in Verbindung und fragte nach möglichen Arbeitsperspektiven in der Nach-Shell-Ära. Die Handelskammer empfahl ihm, sich an den Verein der Bremer Wirtschaftssenioren zu wenden. »Und seither berate ich. Denn Beratung ist das ›Salz in der Suppe‹. Da bekommt man direktes Feedback von den Leuten. Für den Mitgliedsbeitrag von 25 Euro im Jahr kann ich jetzt meine Arbeitskraft für etwas Sinnvolles einsetzen und habe gleichzeitig das gute Gefühl, gebraucht zu werden.«
Nach seinem Arbeitseinsatz für den Verein gefragt, staune ich über das hohe Arbeitspensum, das er sich auflädt – kostenlos, versteht sich: Gelder müssen akquiriert, die laufenden Kosten des Vereins gedeckt und ein Gesamtetat von 35 000 Euro verwaltet werden. Schließlich hat der Verein den Anspruch, professionell zu arbeiten. Regelmäßige Weiterbildungen sind dafür unerlässlich. Nur so kann eine kompetente Beratung garantiert werden. Vereinskollege Gumprecht bringt die Sache auf den Punkt: »Um fachlich immer auf dem Laufenden zu sein, laden wir uns alle sechs bis acht Wochen einen Referenten oder eine Referentin ein. Da werden dann relevante Fragen, unter anderem zur Rente oder auch Versicherungsfragen, diskutiert. Wir lernen also ständig dazu. Und das müssen wir auch: Schließlich geht es um Existenzen.«
Viele ältere Menschen wollen noch arbeiten
Sonja Beuch ist eine der wenigen Frauen, die bei den Wirtschaftssenioren aktiv sind. Seit 2005 sitzt sie als stellvertretende Vorsitzende im Vorstand. Die Maschinenbauingenieurin macht deutlich, wo die Aufgaben des Vereins liegen: »Wir gehen davon aus, dass die eigentliche Arbeit von den Existenzgründern zu machen ist. Der Gründer bzw. die Gründerin muss wissen was er bzw. sie will. Denn eines ist klar: Wir stürzen uns nicht blind darauf, alle in die Selbstständigkeit zu bringen oder sie dazu zu animieren. Das wäre auch grob fahrlässig. Unser Ziel ist es, die richtigen Fragen zu stellen und gegebenenfalls korrigierend einzuwirken. Mehr können wir nicht tun.«
Korrekturen sind manchmal unvermeidlich. Und eigene Fehler würde sich die Bremerin nur ungern erlauben. Nach dem Abitur fuhr die selbstbewusste Seniorin zehn Jahre als Wirtschaftsoffizierin zur See. Danach arbeitete sie in leitenden Positionen in der Seeverkehrs- und Hafenwirtschaft. Mit ihrem Mann ging sie schließlich nach China und wurde dort in einer Reederei Geschäftsführerin für Finanzen. Nach dem Verkauf der Reederei kam sie mit ihrem Mann wieder in die Hansestadt und arbeitete hier als kaufmännische Leiterin für eine Spedition, die sie dann aber – wie sie es ausdrückt – einfach »entsorgt« hat.
Dieses Erlebnis kann Beuch nicht vergessen. Ihrer Meinung nach zählt in der heutigen Zeit vor allem eines: »Auf Biegen und Brechen soll von den Arbeitnehmern die gesetzte Marge erreicht werden. Wenn dies nicht geschieht, werden Leute entlassen. Und sollten doch mal wieder Kollegen eingestellt werden, dann sind es eher die Jüngeren, die gute Chancen haben. Ich sage Ihnen: Da muss ein Umdenken stattfinden. Schließlich leben wir in einer alternden Gesellschaft, wo die Älteren durchaus noch arbeiten können und wollen.«
Laut Beuch arbeitet ein Bremer Logistikunternehmen heute schon mit altersgemischten Teams und macht damit gute Erfahrungen: Einem jungen Kranführer, der die Container vom Schiff passgenau heben muss, wird beispielsweise ein erfahrener Mitarbeiter zur Seite gestellt. Risiken werden damit minimiert. Für Beuch ein Projekt, das Schule machen könnte. Für sie persönlich ein Hoffnungsschimmer – kennt sie doch viele ältere Menschen, die gerne noch arbeiten würden. Nicht gerade Vollzeit, aber vielleicht Teilzeit. Naiv ist Beuch dabei keineswegs. Denn bei körperlich belastenden Berufen sieht sie Grenzen des Machbaren. »Sicherlich kann man diesen Leuten nicht zumuten, bis ins hohe Alter ihre körperlich hoch anstrengende Arbeit fortzusetzen. Aber wer sagt denn, dass sie nicht als Fortbilder tätig werden können? Im Grunde ist es doch eine Frage der Qualifikation. Und wenn wir lebenslanges Lernen wirklich ernst nehmen, dann sehe ich hier großes Potenzial.«
Neue Tätigkeiten müssten her
Dann erzählt Beuch die nachdenklich stimmende Geschichte ihres Bekannten. Sie schmückt aus, wie sehr er sich auf den bevorstehenden Ruhestand gefreut habe. Aber auch, dass er nach drei Monaten Aufräumarbeiten im Garten, auf dem Dachboden und im Keller nichts mehr mit sich anzufangen wusste. Beuch: »Die schöne und unbeschwerte Zeit geht dann schnell zu Ende, und man fällt etwas orientierungslos in ein dunkles, tiefes Loch.« Kollege Gumprecht pflichtet ihr bei: »Es ist ja auch mit den Hobbys so: Wenn sie den Arbeitsstress nicht mehr haben, ist das Hobby nur noch die Hälfte wert.« Wie er sich denn im idealtypischen Sinne den so genannten Ruhestand vorstelle? »Man müsste einfach einen neuen Status erfinden – speziell für Senioren. Neue Berufe und neue Tätigkeiten für Menschen, die auch im hohen Alter noch arbeiten wollen. Das wäre auch ein Modell, das keine Kollisionen zwischen den Generationen verursacht.«
Der ehemalige Produktionsleiter Gumprecht, die frühere Logistikerin Beuch und der ehemalige Shell-Geschäftsführer Klein legen die Hände nicht in den Schoß und haben für sich einen Ort gefunden, wo sie gebraucht werden und wo ihr Wissen gefragt ist. Am Ende des mehr als zweistündigen Gesprächs in der Geschäftsstelle des Vereins im Bremer Technologiepark verabschiede ich mich von den umtriebigen Senioren. Und bin wenig verwundert, als ich höre, dass sich die beiden Herren kurz nach 18 Uhr zu einem weiteren Gespräch verabredet haben, und Sonja Beuch noch einen direkten Anschlusstermin erwähnt. Die drei Senioren leben das Gegenteil von Ruhestand und segeln immer noch hart am Wind.
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