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Das schräge Jahr 2009
In einer anderen Zeit, sie verging sehr schnell vor 20 Jahren, pflegte man kritischen Geistern mit der Frage zu begegnen, wo denn das Positive bleibe, Genossinnen und Genossen? Deshalb gleich das Positive des Jahres 2009: Weder das deutsche Volk noch andere mehr oder weniger befreundete Völkerschaften sind in jenem Maße von der Schweinegrippe gezeichnet oder gar dahingerafft worden, das herbeimeditiert wurde. Freilich ist man nicht sicher, ob das in jedem Falle als Gewinn betrachtet werden darf. Insbesondere ein paar Dauergästen des monatelangen großen Plauschangriffs zum 20. Jahrestag des 9. November 1989, in diesem Jahr eine der härtesten Prüfungen, hätte man einen kleinen wirklichen Schwächeausfall nicht direkt verübelt. Zumal sich das große Wortschwalltheater im Jahr des Herrn 2010 wiederholen wird. Denn dann tragen die vereinigten Streitkräfte unter der weisen Führung der Gaucks, Marons und am Ende sogar der Emmerlichs ihre Darbietungen rund um den 3. Oktober erneut auf sämtlichen Kanälen vor. Einheitlich, geschlossen und ungesäumt.
Die kleine Gruppe der Berufsbürgerrechtler aus der DDR, die unterdessen etabliert wurde, muss man unbedingt ausnehmen, wenn von begrüßenswerten Veränderungen im Zuge des 9. November 1989 die Rede sein soll. Nicht zuletzt, da diese Fraktion heute doch auffällig reizbar darüber wacht, nun ihrerseits möglichst keine Opposition zu eigenen Darstellungen zuzulassen. Ihr hoher Wert auf dem öffentlichen Markt der Wohlgefälligkeit ergibt sich vor allem daraus, dass das ewige »Es war alles so schrecklich in der DDR« völlig berechenbar ist und daher gern genommen wird. Berechenbarkeit gehört nun einmal zu den höchsten Gütern dieser Gesellschaft. Ist das jetzt was Positives, Genossinnen und Genossen? Denn über historische Verläufe, die anno 2009 so oft und teils äußerst schräg besprochen wurden, kann man im Nachhinein allerlei behaupten. Aber Berechenbarkeit gehört trotzdem nicht zu den Stärken der Geschichte.
Darauf kommt es allerdings auch nicht an. Was wir brauchen, das war früher so und ist es heute erst recht, ist die Heiligsprechung des Hier und Heute. Mit denen, die sich nunmehr als Vorkämpfer gegen »die zweite deutsche Diktatur« präsentieren lassen, funktioniert nämlich jener typisch westdeutsche Reflex am besten, der Ost-West-Diskussionen auch beinahe 20 Jahre nach der Implosion der DDR mitunter recht schwierig macht. Jede kritische Bemerkung zu DDR-Verhältnissen wird als Lobpreisung der wunderschönen Gegenwart missverstanden. Obwohl viele Kritiker seinerzeit auf Verbesserungen in der DDR und nicht auf deren Abschaffung zielten. Aktuelle Gegebenheiten sind im Grunde ein ganz anderes paar Schuhe. Würde man beispielsweise Sebastian Pflugbeil, Daniela Dahn, Jens Reich oder auch die gänzlich unberechenbare Bärbel Bohley öfter oder überhaupt zu Wort kommen lassen, auch sie Bürgerrechtler, käme das womöglich mal zur Sprache. Und damit sofort auch die Umkehrung des beschriebenen Reflexes. Jede kritische Bemerkung zur gegenwärtigen Lage zöge schnell den Vorwurf nach sich, die DDR wiederhaben zu wollen. Das ist zwar absurd, aber so steht es nicht selten um die deutschen Dinge.
Zum Schluss kommen wir auf eine Frage, die sich schon deshalb selbst disqualifiziert, weil sie kaum einer stellt. Schon gar nicht öffentlich. Wie viele Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR kann man eigentlich noch als DDR-Bürgerrechtler hausieren gehen, ohne dass es auffällig wird? Die DDR, das ist für nicht wenige das Positive, liebe Genossinnen und Genossen, gibt es nicht mehr. Viele haben sich neuen Anforderungen und Erkenntnissen gestellt, auch stellen müssen. Wann also fragt einer der hofierten Bürgerrechtler beispielsweise mal in Richtung Angela Merkel, wie lange sie den Wahnwitz in Afghanistan noch mitmachen will? Es würde dem immer größeren Unbehagen von Bevölkerung und Soldaten Stimme geben. Aber dazu brauchte man das Kreuz heute.
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