Was bleibt von Dingen, die verschwinden?
Jenny Erpenbeck über die kommunistische Utopie ihrer Großeltern, den Untergang der DDR und die Brüchigkeit der Erinnerung
ND: Frau Erpenbeck, Sie wurden 1967 in Berlin geboren und haben gewissermaßen schon »zwei Leben« gelebt: die ersten rund zwanzig Jahre in der DDR, die zweiten in der Bundesrepublik. Wie nahmen Sie 1989 den politischen, gesellschaftlichen und vor allem auch kulturellen Bruch auf?
Erpenbeck: Ich hatte damals das Gefühl, dass sich die Traditionen, auf die man sich bezieht, grundlegend ändern. Zu der Kultur, mit der ich aufgewachsen war, gehörten Ernst Busch, Hanns Eisler, Wladimir Majakowski – die ganze linke Tradition. Das kippte alles relativ schnell weg. Im Theater wurden auf einmal andere Dinge verhandelt, und es tauchte ein anderes Publikum auf. Mein Vater mochte kaum noch hingehen. In der Universität gab es »Evaluierungen« und Umstrukturierungen, im Zuge derer viele Wissenschaftler ihre Arbeit verloren. Das war in Berlin, wo es nach dem Mauerfall alles doppelt gab, besonders schwierig. Auch meine Mutter war davon betroffen. Man merkte, dass die Eliten ausgewechselt wurden und über geistige Strukturen nun von Leuten entschieden wurde, die mit der Welt hier nicht verbunden waren.
Empfanden Sie diese Veränderungen als Untergang?
Es war ein seltsames Gefühl. Wir waren zwar noch da. Aber wir wurden nicht mehr gefragt. An der Musikhochschule wurde unser Professor für Dramaturgie, der nicht einmal der Partei angehört hatte, geschweige denn der Stasi, plötzlich als Abteilungsleiter für Musiktheaterregie entlassen. Die Studenten kämpften dann dafür, dass er zurückkam, was auch geschah. Aber der neue Bereichsleiter redete ihn nie mehr mit Professor an. An solchen Sachen merkte man, dass so etwas wie eine feindliche Übernahme in kultureller Hinsicht stattfand. Es waren Vorgänge, bei denen man auch das Gefühl hatte, dass Leute, die im Westen nicht landen konnten, plötzlich den Osten entdeckten.
Sie stammen aus einer Familie kommunistischer Intellektueller. Wie wurde in Ihrer Familie der Zusammenbruch des Kommunismus als politisches System wahrgenommen?
Der Verlag »Der Morgen«, bei dem die Bücher meiner Großmutter Hedda Zinner verlegt wurden, machte innerhalb eines halben Jahres pleite. Damit konnten ihre Bücher nicht mehr aufgelegt werden. Außerdem war klar, dass das, wofür meine Großmutter ihr ganzes Leben lang gekämpft hatte, ein menschlicheres System, einfach nicht funktioniert hatte und dass man jetzt wieder zum Kapitalismus zurückkehrte. Als mein Vater dann noch ein Jahr in die USA ging, um dort zu arbeiten, hatte sie gar keinen Halt mehr. Sie hat über all dem buchstäblich den Verstand verloren. Ich glaube, dass das von der umfassenden Enttäuschung herrührte, dass alles, wofür sie ihr Leben lang gekämpft hatte, falsch gewesen sein soll. Ich glaube auch, dass die Frage sie gequält hat, ob es ein Fehler war, das System von innen heraus nicht genug kritisiert zu haben, weil man dem Westen nicht die Möglichkeit bieten wollte, die Kritik aufzugreifen.
Inwieweit beschäftigen diese Fragen Sie selbst?
Ich frage mich, wie man so ein Problem lösen kann. Man braucht die Offenheit, um ein System lebendig zu halten, damit es nicht verknöchert. Gleichzeitig war es aber so, dass nach dem Krieg im Osten viele Fabriken durch die Russen demontiert waren, während der Westen durch den Marshallplan der Amerikaner finanzielle Unterstützung erhielt. Das heißt, es bestanden ganz handfeste Vorteile auf Seiten des Westens. Insofern war klar, dass sich der Osten erst einmal abkapseln wollte, um wie unter einer Glasglocke das Experiment zu starten. Da war der falsche Anfang schon gesetzt. Ein System, das innerlich nicht kritikfähig ist, kann auf Dauer nicht bestehen.
Für meine Großmutter war das schlimm, weil alles erst zutage trat, als es zu spät war. Auch für meinen Vater war es eine schwere Enttäuschung, die bis heute anhält. Um weiter reine Philosophie zu betreiben, fehlte ihm die Freiheit von materiellen Sorgen, vor allem aber wurde für ihn die Frage nach dem Sinn seiner Arbeit ein Problem. Mein Vater hatte das Gefühl, als gebe es nichts mehr, wo man hindenke. Die Richtung war weg. Keiner wollte mehr wirklich etwas, das über die Sicherung des eigenen, sorgenfreien Privatlebens hinausgereicht hätte.
War das in der DDR anders?
In der DDR gab es immer noch andere Dinge. Ich habe in der DDR nie über Geld geredet. Kaum fiel die Mauer, mussten wir über Geld reden. In der Schule hatte ich gelernt, wie schwer es im Kapitalismus ist, dass es Arbeitslose gibt, die Mieten hoch sind und in den USA Kinder verhungern. Das hat einen irgendwann furchtbar gelangweilt, es ging einen nicht wirklich etwas an. In dem Moment aber, in dem man statt 40 Mark für die Miete 400 zahlen soll, bekommt man einen existenziellen Schock. Plötzlich hat man dieses Wissen als eigene Erfahrung.
Das ist etwas, das mich auch an meinen Großeltern interessiert: Wie gibt man eine solche Erfahrung weiter? Meine Großeltern haben die Weltwirtschaftskrise mitbekommen, die Kämpfe zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, dann Hitler, schließlich die Zeit der Emigration – sie haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Viele von ihren Freunden sind umgekommen. Sie sind Risiken eingegangen, ohne zu wissen, was daraus wird. Sobald sie aber versuchen, diese Erfahrungen der nächsten Generation zu erzählen, wird daraus eine Märchenstunde.
Kurz vor ihrem Tod bekannte Ihre Großmutter »mit einer Stimme, die keine menschliche mehr ist«, wie Sie in Ihrem Erzählungsband »Tand« schreiben: »Wir haben alles gewollt, aber wir haben es nicht erreicht … Es ist alles zu viel gewesen, und alles zu wenig …« Das sind etwas kryptische Äußerungen. Wie interpretieren Sie sie vor dem Hintergrund der Situation, in der sie gesprochen wurden?
Das war in der Zeit, als sie schon krank war. Sie sagte solche Sätze, die wie Blöcke daherkamen. Ich fand das beachtlich, weil es nicht der Art entsprach, wie sie bisher in ihrem Leben gesprochen hatte. Man könnte sagen, sie wusste nicht mehr, was sie sagte. Aber ich glaube, dass sie es genau wusste, und es in solchen Sätzen auf eine ganz grundlegende Art formulierte. So wie ihre Enttäuschung grundlegend war. Die kommunistischen Utopien gehen über das eigene Leben hinaus. Meiner Großmutter war immer klar, dass sie den Kommunismus nicht mehr erleben würde. Der war als Utopie irgendwo. Was sie aber als so hart empfand, das war, dass die ganze Idee plötzlich abserviert wurde. Es wurde so getan, als ob die Zeit einfach ausgelöscht werden könnte.
Wann tauchten bei Ihnen Zweifel an der Verwirklichung der Idee einer humanen sozialistischen Gesellschaft auf?
Das Gute an der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, war, dass wir eine große Distanz zu unserer Regierung hatten. Jeder fand diese Mannschaft senil und unfähig und wartete darauf, dass Honecker endlich abtritt. In der Stasi-Akte meines Vaters steht schon Anfang der 80er Jahre, dass er findet, das System müsse komplett umgestürzt und besser gemacht werden. Die Frage war nur, ob man auf Seiten derer stand, die oppositionell tätig waren, oder, so wie meine Eltern, die in der Partei waren, von innen durch Kritik eine Änderung zu erreichen versuchten.
Gleichzeitig haben wir bis zum Ende nicht geglaubt, dass sich dieser Staat wirklich auflöst. Wir dachten immer, die Alten würden abtreten, und dann kämen endlich die an die Macht, die klug und vernünftig sind. Wir haben es bis zum Mauerfall nicht für möglich gehalten, dass das hier einfach alles aufhört.
Aber schon das äußere Bild des Staates gab wenig Anlass zur Hoffnung. Ich erinnere mich, dass Kommunisten aus Italien nach Besuchen in der DDR sagten: Was für ein schreckliches, dunkles Land!
Grau kam die DDR nur den Westlern vor. Uns hat es fertig gemacht, dass plötzlich überall, wo vorher eine Wiese zu sehen war, ein Werbeplakat aufgestellt wurde. Ich fand auch Prenzlauer Berg früher um vieles interessanter. Heute besteht so eine Uniformität: Alles ist gelb gestrichen. Alles hat doppeltverglaste Isolierfenster. Natürlich ist die Lebensqualität höher. Aber das Hinschauen ist ein anderes. Wir hatten noch die Einschusslöcher aus dem Krieg und die alten Schriften. Nur wenige Architekten, die Häuser sanierten, haben diese Schriften erhalten.
Was vermissen Sie am meisten?
Es ist nicht so, dass ich die DDR vermisse. Man vermisst das Gute und das Schlechte nur, weil man es gekannt hat. Wenn man in ein System geworfen wird, das in jeder Hinsicht neu ist, von der Kultur über die Menschen, Arbeitsstellen und Produkte, die man jeden Tag in der Kaufhalle kauft, bis hin zu solchen Wörtern wie »Kaufhalle«, die es auch nicht mehr gibt, dann tritt ein existenzielles Vermissen dessen ein, was man kennt.
Ich habe mich im Russischunterricht oft gelangweilt. Ich habe mich in diesen ewigen Pionierversammlungen tödlich gelangweilt. Ich habe auf diesen Ämtern rumgehockt und fand sie furchtbar. Aber ich habe diese Sachen gekannt. Und ich glaube, dass in dem Moment, da alles auf einmal im Umbruch ist und alles, was man gelernt hat, zu nichts mehr führt, weil es nicht mehr anwendbar ist, ein Vermissen eintritt. Das ist keine Wertung. Und deswegen ist es auch ungerecht zu sagen, wir seien Nostalgiker. Wir haben unsere Lebenszeit gehabt, und die war so, wie sie war. Und es gibt einen Bruch, an dem man an die Zeit nicht mehr anknüpfen kann.
Welchen Raum nimmt die DDR heute in Ihren Empfindungen ein?
Das Kuriose ist, dass sie, obwohl ich am selben Ort lebe, komplett verschwunden ist. Ich gehe durch die Straßen, die ich seit meiner Kindheit kenne, und trotzdem ist alles anders. Wenn ich meinem Kind von der DDR erzähle, komme ich mir vor wie eine Großmutter, die von ganz ferner Zeit erzählt. Dabei misstraue ich auch meiner Erinnerung: Wie sah eine Kaufhalle von innen aus? Ich sehe es nicht mehr vor meinem inneren Auge. Das macht mir manchmal Angst, dass die Sachen mir wegrutschen. Es ist wie ein Raum, der sich aus handfesten wie auch geistigen Dingen zusammensetzt. Dieser Raum als Ganzes ist weg. Der Verlust macht eine Art Bilderrahmen um die Sachen, und dadurch bekommen sie einen anderen Wert.
Ihren 2001 erschienenen Roman »Heimsuchung« verstand ein Kritiker als »Spurensuche in den Ruinen deutscher Geschichte und als poetische Wiederaneignung des verlorenen Familienerbes«. Haben Sie mit diesem Buch Ihren Lebensabschnitt DDR für sich abgeschlossen oder werden Sie das Thema literarisch abermals aufgreifen?
Ich glaube schon, dass diese Themen grundlegend bleiben. Eines der Motive, die in jedem meiner Bücher auftauchen, ist die Frage, wie man mit verschwundener Vergangenheit umgeht. Wie ist das, wenn diese Verbindung von der Kindheit zum Erwachsensein gekappt wird? In gewisser Weise bin ich froh, dass ich etwas so Wichtiges verloren habe, denn das schärft den Blick für die Endlichkeit des menschlichen Lebens.
Jüngst erschien von Ihnen ein Band mit Reflexionen, der den Titel »Dinge, die verschwinden« trägt – ein »Buch des Abschieds«. Wenn auch bei Weitem nicht alle Einträge Erinnerungen an die DDR heraufbeschwören, so finden sich doch manche, in denen Sie sich an Vergehendes und Verschwundenes aus den Zeiten der DDR erinnern. Wollen Sie die Zeit, die Sie in der DDR lebten, festhalten?
Ich weiß nicht, ob ich sie festhalten will. Das Verschwinden interessiert mich eher grundlegend. Und die DDR ist dafür ein gutes Beispiel, gerade angesichts solcher Utopien, denen meine Großeltern gefolgt sind. Man hofft doch immer auf etwas, das über die eigene leibliche Existenz hinausragt und bleibt. Meine Großeltern hatten ihr Leben lang diese Hoffnung und haben auch nach ihren Kräften etwas dafür getan. Dennoch wird das jetzt so nivelliert. Das wirft die Frage auf, was man als Mensch eigentlich erreichen kann – wie weit man auf Dauer über seine Existenz hinauswachsen kann.
Haben Sie Furcht vor dem Vergessen?
Das ganze Leben verwandelt sich fortwährend in Vergangenheit und, bestenfalls, in Erinnerung. Wenn Sie jetzt hinausgehen, dann sind Sie bei mir gewesen. Dann haben Sie nur noch die Erinnerung. Erinnerung hat viel mit Leben zu tun. Während man lebt, produziert man Erinnerung. Man hat ja ein sehr komplexes Leben. Aber wenn dieser Alltag an irgendeiner Stelle ein Loch bekommt, etwa durch einen Todesfall, dann würde man sich gerne an die ganze Komplexität, die der Alltag gehabt hat, erinnern. Das kann man nicht. Man erinnert sich an einzelne Bilder, nicht an das ganze Leben, weil die Erinnerung nicht das Leben ist. Die Erinnerung ist immer nur ein Blick zurück. Was man im Moment erlebt, bleibt nur in Bruchstücken übrig, und die Komplexität verschwindet ins Nichts.
Das Gespräch führte Adelbert Reif.
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