Brennpunkt Hasenbergl

Im Münchner Norden entstand in 60er Jahren ein Neubauviertel. Sein Ruf ist schlecht – zu Unrecht, sagt der SPD-Stadtrat

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 6 Min.
In Starnberg, vor den Toren Münchens gelegen, wohnen mit die meisten Millionäre in Deutschland. Auch die weißblaue Landeshauptstadt ist dafür bekannt, dass sich hier Prominente und Reiche im Wohlstandsbiotop wohlfühlen. Doch irgendwo zwischen all den Stadtresidenzen und den schicken Lofts müssen auch diejenigen wohnen, die Hemden bügeln, Straßenbahnen lenken und die Vorstandsetagen saugen. Die wohnen zum Beispiel im Münchner Stadtviertel Hasenbergl, auch bekannt als »sozialer Brennpunkt«.

Wenn Sofie K. aus dem Fenster sieht, blickt sie auf die Stirnseite von vier Wohnblocks. Dazwischen eine große Rasenfläche und hohe Pappeln, unter denen die Kinder Fußball spielen. Seit mehr als 40 Jahren wohnt die 83-jährige Münchnerin hier in der Reschreiterstraße am Hasenbergl im Münchner Norden. Mittlerweile fällt ihr das Gehen schwer, und nur ein oder zwei Mal in der Woche verlässt sie das Haus. Dann ärgert sie sich, wie der Hauseingang aussieht: etwas heruntergekommen.

Früher, als sie noch gut zu Fuß war, ging sie die paar Hundert Meter bis zum Einkaufszentrum an der Blodigstraße. Zum Einkaufen im Supermarkt, der ganz früher einmal COOP hieß, zur Stadtsparkasse, um die Rente abzuheben und zur Post, um Briefmarken zu kaufen. Die Post ist vor einigen Jahren abgebrannt und die Behörde machten keine Anstalten, dort wieder eine Filiale zu eröffnen. Die Sparkasse ist in das nagelneue Einkaufszentrum an der Schleißheimer Straße umgezogen, und der Supermarkt steht leer – so wie die ehemalige »Mathäser«-Gaststätte.

Andrang an der »Tafel«

Dort oben im Saal fanden früher Hochzeiten statt, und dort tagte der SPD-Ortsverein. Heute sind die Scheiben blind. Nur das »Café Hasenbergl« ist noch offen, doch eigentlich wird hier mehr Bier als Kaffee getrunken. So wie bei dem Grüppchen Männer, das ein paar Meter entfernt um einen stillgelegten Brunnen herum sitzt, neben sich Plastiktüten mit Bierflaschen.

»Eines der Probleme des Hasenbergl sind die verödenden Einkaufszentren«, sagt dann auch Rheinhard Bauer, Stadtteilhistoriker, SPD-Stadtrat und seit 30 Jahren Mitglied im örtlichen Bezirksausschuss. »Die Verkaufsflächen sind für heutige Betreiber zu klein, die Kaufkraft der Viertel-Bewohner zu gering.« Deshalb meiden die Einzelhandelsketten diese Einkaufszentren aus den 1960er Jahren, als das Hasenbergl entstand.

Ortswechsel, Mittwoch Nachmittag vor der Kirche »Mariae Sieben Schmerzen«. Vor einem Transporter steht eine Menschenschlange und wartet auf die Ausgabe von Lebensmitteln. Der Andrang an der »Tafel« am Hasenbergl ist groß – der Verein verteilt wie in anderen Städten auch kostenlose Lebensmittel an Bedürftige. Gegen einen Berechtigungsschein gibt es Milch, Gemüse, Brot und andere Waren.

Hierher kommt die 42-jährige alleinerziehende Mutter mit vier Kindern, der nicht genug Geld für Lebensmittel bleibt; hierher kommt der 62-jährige Hartz-IV-Empfänger, dem das Anstehen nichts ausmacht, weil er das von der DDR her kennt; hierher kommt die 66-jährige Rentnerin, deren Rente nicht ausreicht. Hier im Norden des Hasenbergls wohnen viele Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger. Und auch viele Ausländer, ihr Anteil an der Viertel-Bevölkerung beträgt hier mehr als 50 Prozent.

Die Pfarrei befindet sich in unmittelbarer Nähe des ehemaligen »Frauenholzes«, und hier liegen sowohl die Anfänge des Viertels als auch die Anfänge des schlechten Rufes, den das Hasenbergl seit Jahrzehnten begleitet. »Das Frauenholz war ein Barackenlager für Flakhelferinnen während des Zweiten Weltkrieges«, erzählt Stadtrat Bauer, der regelmäßig Führungen zur Geschichte des Viertels durchführt.

Überfall an der Haustür

In den 1950er Jahren eröffnete dann die Stadt München ein Obdachlosenlager für die Ausgebombten. 5000 Personen lebten in diesen Baracken am Waldesrand fern von der Stadtgrenze, die Polizei hatte gut zu tun, und der Ruf des »Frauenholzes« war denkbar schlecht. Dieser Ruf aber übertrug sich, als in den 1960er Jahren auf der angrenzenden Heide am Hasenbergl ein Neubaugebiet aus dem Boden gestampft wurde.

Das war die Zeit, als Sofie K. mit ihrer Familie in das Viertel kam. Die Sechs-Personen-Familie zog vom Arbeiterviertel Giesing und aus der beengten Zwei-Zimmer-Altbauwohnung hinaus an den Stadtrand in eine Vier-Zimmer-Wohnung mit Bad und Zentralheizung – für 1964 ein enormer Komfort.

»Das erste Bad in der Badewanne war überwältigend«, erzählt die geborene Münchnerin. Dann ist sie mit dem Viertel zusammen altgeworden. Ihre Kinder zogen weg, und das taten auch die Bewohner aus den ersten Jahren. Die Mieten waren billig, und wer konnte, sparte in den Jahren des Wirtschaftswunders auf ein eigenes Häuschen. Seit den 1980er Jahren rückten vor allem ausländische Mitbürger nach.

Sofie K. ist mittlerweile im Haus die einzige Mieterin, die schon seit den Anfangsjahren hier lebt. Die Bäume vor dem Fenster sind inzwischen mächtig gewachsen, und die sozialen Probleme gibt es noch immer. Als sie noch gehen konnte und ihre Rente von der Stadtsparkasse abholte, wurde sie beim Aufschließen der Haustüre mitten am Tage überfallen und ausgeraubt.

»Ich dachte, der wohnt im Haus, sonst wäre ich vorsichtiger gewesen«, erinnert sie sich immer noch mit Schrecken. Und auch wenn sie heute nicht mehr so mobil ist – sie ist hellwach, was die Umgebung anbelangt. Sie weiß von dem Pärchen nebenan, das in der Zweizimmerwohnung ihre Hunde den ganzen Tag alleine ließ, bis deren Bellen die Nachbarn alarmierte. Und von der alleinerziehenden Mutter im zweiten Stock, deren drei Kinder schon einige Male von der Polizei und dem Jugendamt abgeholt wurden.

Wenn man von Problemen am Hasenbergl spricht, dann muss man auch von diesen Kindern und von den Schulen sprechen, meint Stadtrat Bauer. Eine völlig unzureichende Infrastruktur für die rund 50 000 Einwohner am Hasenbergl, das zeichnete lange Jahre das Viertel aus. Es fehlten Kneipen, Kinos, Schwimmbäder – und auch weiterführende Schulen. Für die Arbeiterkinder der 1960er Jahre genügten die Grund- und Hauptschulen, meinten seinerzeit die Planer. Daran hat sich nicht viel geändert, nur dass heute in den Klassen die meisten Kinder nicht richtig oder gar nicht Deutsch sprechen können.

Das ist das Hasenbergl mit seinen Problemen. »Aber«, so sagt Reinhard Bauer, »es gibt auch sehr viel Positives hier, der schlechte Ruf ist nicht gerechtfertigt«. Und er spricht von den Ganztagesklassen, die den Kindern mit ausländischen Hintergrund weiterhelfen sollen. Oder von der Initiative »Lichtblick«, die sich um Kinder und Jugendliche kümmert, mit Mittagessen, Hausaufgabennachhilfe und beim Berufsstart. »Hier ist alles grün, die Verkehrsanbindung durch die U-Bahn jetzt ideal, und auch die Mieten sind noch relativ günstig«, erklärt der 58-jährige Lokalpolitiker.

Auch Sofie K. liebt ihre Wohnung und ihren Balkon: »Das ist jetzt mein Reich«, sagt sie. Bauer hat festgestellt: »Auf meinen Führungen stelle ich fest, die meisten kennen das Hasenbergl gar nicht.« Und er berichtet von Bekannten, »die überlegen, ob sie nicht hier hinaus in den Norden ziehen wollen«.

Eine neue Bibliothek

Freilich gibt es auch andere Stimmen. Von den Anwohnern der »Hasenbergl-Straße« etwa, die im Bezirksausschuss eine Namensänderung für ihre Straße forderten, des schlechten Rufes wegen. Diese Straße liegt noch vor dem eigentlichen Hasenbergl und ist rechts und links bebaut mit Einfamilienhäusern.

Hängt so dem Viertel immer noch sein Ruf an, ist eines sicher: Die Tristesse im Einkaufszentrum an der Blodigstraße wird nicht von Dauer sein. Dort soll in den kommenden Jahren als »Neue Mitte Hasenbergl«, ein Kulturzentrum mit Stadtteilbibliothek, Volkshochschule und Mehrzweckräumen entstehen.

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