Dichten, Denken, Rhythmisieren
Poetry Slam-Stadtmeisterschaft mit vielen Sieganwärtern in der Volksbühne
Die Volksbühne war voll wie lange nicht. Eine fröhliche Menschenschlange mäanderte durchs Foyer. Sie war voller Hoffnung auf einen guten Abend und voller Hoffnung, per Eintrittskarte die Zugangserlaubnis zu erhalten.
Es handelte sich um die Stadtmeisterschaft im Poetry Slam. Aus einem Kreis von neun bereits bei anderen Slams siegreichen Teilnehmern wurde der beste rhythmische Reimer Berlins gekürt. Poetry Slam ist die Wiedergeburt der hehren Dichtkunst auf dem dreckigen Humus von Hip Hop – eine Geburt im Geiste der Musik und des Gang-Faszinosums. Den roten Slam-Hammer sollte derjenige erhalten, der aus den kleinsten Details des Alltags, den größten politischen Zusammenhängen und den am tiefsten gefühlten seelischen Erschütterungen den sprachgewaltigsten Text schöpft, ihn in eine rhythmische Form bringt und souverän zum Vortrag bringt.
Julian Heun durfte sich den Slam-Hammer an den Gürtel stecken. Zu Recht. Denn der junge Berliner jongliert virtuos mit dem Versmaß. Er bellt »Liebääh«, als sei es ein Schimpfwort, dem Köter hingeworfen, der sein Geschäft an der Straßenlaterne verrichtet. Und doch beschreibt er die Sehnsucht nach ihr, nach diesem Gefühl, das durch kein Warum zu erklären ist, ja das bei zu vielen Warum wie Schnee unter dem Bunsenbrenner schmilzt, in einer Subtilität, die an Rilke erinnert. Er mischt sie ab mit einer schelmischen Profanität, aus der Christian Morgenstern lugt. Im Finaldurchgang legte der frühere Student der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft ein furioses Plädoyer für die Nicht-Analysierbarkeit von Poesie auf die Bretter der Volksbühne.
Till Reiners, aus Trier zugewanderter Neuberliner, hätte den Slam-Hammer ebenfalls verdient. Er leistete sich in seinem famosen »Bobbycar«-Text sogar Szenekritik und nahm bei den Eltern wohnende Wort-berserkende Slammer und Authentizitäts-geile Voyeure aufs Korn. Auch Sebastian Lehmann, ein sehr komischer Szenen-Durchleuchter (von Öko über Autonome bis Jungliberale reichte sein Bogen) hätte der Gewinner sein können. Oder Peh, die Dichterin aus Adlershof mit Philadelphia-Erfahrung, die wunderbar die Liebe besang, das sich Zeit nehmen dafür und das Auskosten der Tiefe, das der Schnelligkeit des horizontalen Ausbreitens so diametral im Wege steht. Titelverteidiger Gauner, der dem »Aktenzeichen X,Y«-Erfinder Eduard Zimmermann wegen medialer Angstmache und geschürten Denunziantentums einen wortakrobatischen Prozess machte, wäre ebenfalls ein würdiger Sieger gewesen. Er hatte Pech, dass das im Schnitt zehn Jahre jüngere Publikum seinen traumatischen TV-Erfahrungen eher verständnislos gegenüber saß.
Der Gesamtberliner Poetry Slam wurde souverän moderiert von Marc-Uwe Kling, der zudem mit seiner Formation Lesedüne als Anheizer die Demokratie, die Freiheit und die Menschenrechte lautpoetisch so zerdehnte, zerschepperte und zerklapperte, bis diese Begriffe auch akustisch zu genau den kläglichen Resten wurden, zu denen die herrschende Politik sie bereits inhaltlich gemacht hat.
Auf einer Bühne, auf der Text gewöhnlich als nicht so wichtig angesehen, eher nur als Rhythmus gedacht und oft vernuschelt wird, stachen Klarheit der Gedanken, der absolute Formwillen und das Gefühl für das Schwingen der Silben als so außerordentlich heraus, dass man fordern will: Kultursenat, wage ein Experiment! Öffne diese dramatischen Bühnenhäuser, in denen bejahrte Worte lustlos gespuckt, fließende Texte fernsehgewohnheitsmäßig zerstückelt und tragische Helden hilflos profanisiert werden. Lasse dort dauerhaft die junge wilde Mischung der Poetry Slammer herein. Baue darauf, dass sie die, die mit Shakespeare und Schiller, Lautreamont und Müller sprechen gelernt haben, sich über die Jahre aber auf professionell-gelangweilte Artikulation eingependelt haben, zu einer neuen Freude am Gesprochenen anstacheln. Gebe einer denkenden und sich der Form des Denkens in hohem Maße bewusst seienden Jugend einen größeren Tummelplatz.
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