Rekordarbeitslosigkeit am Bosporus
Die türkische Wirtschaft reagiert mit Massenentlassungen auf die Krise
Es waren schockierende Bilder, die in den letzten Tagen des alten Jahres über die Bildschirme der türkischen Nachrichtenstationen flimmerten. Ältere Männer lagen niedergeschlagen auf einem zentralen Platz in Ankara, andere standen mit zerrissenen Kleidern mitten im Winter knietief im Wasser. Was da gezeigt wurde, waren die Ergebnisse eines Polizeieinsatzes, bei dem Hunderte von Spezialeinsatztruppen erbarmungslos auf völlig friedliche Demonstranten eingeschlagen hatten und ihre Kollegen die Versammlung darüber hinaus aus Wasserwerfern traktierten. Die Opfer dieses Polizeieinsatzes waren zumeist gestandene Familienväter in den Fünfzigern, die einem Aufruf von Türk-Is, dem eher konservativen, staatstreuen Gewerkschaftsdachverband gefolgt waren, und in Ankara dafür demonstrierten, dass die Regierung früher gemachte Versprechen jetzt auch einhalten soll.
Hartnäckige Proteste
Allen Demonstranten gemeinsam ist, dass sie bis jetzt in einem staatlichen Betrieb im Tabak- oder Alkoholsektor beschäftigt waren. Dieses frühere Staatsmonopol TEKEL war vor Jahren von der Regierung aufgelöst und nach und nach privatisiert worden. Jetzt sind viele der früheren staatlichen Fabriken geschlossen und die Arbeiter auf die Straße gesetzt worden. Weil das bereits beim Verkauf der Fabriken absehbar war, hatte man die Beschäftigten mit dem Versprechen beruhigt, sie würden in anderen Staatsbetrieben Arbeitsplätze bekommen. Doch angesichts der Wirtschaftskrise kann oder will die Regierung die Zusagen nun nicht einhalten. Bei der derzeitigen Arbeitslosigkeit haben die ehemaligen TEKEL-Arbeiter indes keine Chance, auf dem normalen Arbeitsmarkt einen Job zu finden. Das erklärt die Hartnäckigkeit ihres Protestes. Seit fast einem Monat versammeln sie sich nun schon aus allen Landesteilen in der Hauptstadt. Auch die brutalen Polizeieinsätze konnten sie nicht vertreiben. Angebote der Regierung, die darauf hinauslaufen, dass sie zukünftig in Teilzeit für lediglich rund 600 Lira (280 Euro) arbeiten sollen, wollen sie nicht akzeptieren. »Davon kann man schließlich keine Familie ernähren«, sagte einer der Demonstranten.
Hohe Dunkelziffer
Eine Lösung ist nicht in Sicht, und die TEKEL-Arbeiter sind bei Weitem nicht die einzigen, die in der Türkei derzeit auf der Straße stehen. Die Weltwirtschaftskrise hat am Bosporus weniger die Banken, dafür umso mehr die Beschäftigten erwischt. Während die Börse fast schon wieder auf ihrem Höchststand von 2007 angekommen ist, sind jeden Monat mehr Menschen ohne Arbeit. Nach offiziellen Statistiken sind es 13,5 Prozent. Da mehr als die Hälfte der Beschäftigten aber ohne Sozialversicherung gearbeitet hat und deshalb gar nicht registriert war, dürften die realen Zahlen nach Schätzungen der meisten Ökonomen eher bei 25 Prozent liegen. Bei Schul- oder Universitätsabgängern, die neu einen Job suchen, ist die Zahl noch höher. Der größte Teil der Industriearbeitsplätze hängt in der Türkei, wie in Deutschland, vom Export ab. Textil, Autobau, Haushaltswaren und Schiffsbau sind die wichtigsten Sektoren, die vor allem in den letzten zehn Jahren enorm zugelegt hatten. Überall dort ist der Export brutal eingebrochen, auch wenn im Dezember 2009 die Zahlen wieder nach oben gingen.
Schiffbau bricht ein
Besonders dramatisch ist der Einschnitt im Schiffsbau. Die Werftgelände im Istanbuler Vorort Tuzla, auf denen sich die gebaute Tonnage in den letzten acht Jahren mehr als verdreifacht hatte, sehen heute völlig verwaist aus. Etliche Betriebe haben die Tore geschlossen, in anderen werden mit einer kleinen Stammbelegschaft Restaufträge abgearbeitet. Cem Kaya, Generalsekretär von Limter Is, einer kleinen Gewerkschaft für Werftarbeiter, die zum linken Gewerkschaftsdachverband DISK gehört, hat die Zahlen alle im Kopf. Von den 40 000 Arbeitern, die hier noch im Frühjahr 2008 beschäftigt waren, sind jetzt höchstens noch 15 000 übrig, sagt er. Da rund 80 Prozent der Arbeiter über Subunternehmen als Zeitarbeitskräfte in die Werften kamen, konnten sie sofort gefeuert werden. Eine soziale Absicherung gibt es nicht. Die Leute, meint Kaya, gehen zurück in ihre Dörfer und versuchen dort von der Subsistenzwirtschaft zu leben. Das gilt nicht nur für Werftarbeiter. Das Dorf und die Großfamilie sind nach wie vor die primären sozialen Auffangstationen. Einige Istanbuler Bezirke zahlen gestrandeten Arbeitsuchenden aus Anatolien sogar den Umzug zurück aufs Dorf, wenn sie nur bereit sind, zu verschwinden.
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