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Sozialer Rechtsstaat in Gefahr?
Georg Rammer (Attac) über die Ursachen von Kinderarmut in Deutschland / Georg Rammer ist Psychologe und Mitinitiator des Kongresses »Arme Kinder – Reiches Land«, der heute in Karlsruhe stattfindet
ND: In dem Einladungstext zum Kongress »Arme Kinder – Reiches Land« heißt es, Kinderarmut sei politisch herbeigeführt. Was haben Politiker denn falsch gemacht?
Rammer: Die Armut hat sich in den letzten Jahren ständig vergrößert. Parallel dazu haben sich aber auch Reichtum und Vermögen extrem vermehrt. Diese soziale Kluft ist eine Folge der Politik, vor allem der Steuerpolitik mit ihren Entlastungen für Konzerne und Wohlhabende. Die Entscheidungen der Politik haben in den letzten Jahren ganz erheblich zur Verschärfung der Armut beigetragen.
Ist es Zufall, dass der Kinderarmutskongress in Karlsruhe stattfindet? Schließlich muss das hier ansässige Bundesverfassungsgericht demnächst entscheiden, ob die willkürliche Festsetzung der Hartz-IV-Sätze für Kinder grundgesetzkonform ist.
Zunächst einmal ist es insofern dem Zufall geschuldet, als dass sich hier einige aktive Leute zusammengetan haben, um sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. Aber natürlich ist Kinderarmut gerade jetzt aktuell. Schließlich wird das Urteil zu den Regelsätzen für Kinder bereits Ende Januar erwartet. So wie es derzeit aussieht, wird das Verfassungsgericht eine Neuberechnung der Sätze verlangen. Und vor allem ist es für uns – die AG Kinderarmut – ein Anlass, uns mit dem Thema sozialer Rechtsstaat zu beschäftigen.
Ist der soziale Rechtsstaat in Gefahr?
Zwar ist das Sozialstaatsprinzip in der Verfassung festgeschrieben worden, aber wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Deutschland kein sozialer Rechtsstaat mehr sein kann. Alle Statistiken belegen, dass Gesundheit, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe mittlerweile an die soziale Herkunft der Kinder gekoppelt sind. Das entspricht nicht den Vorgaben eines sozialen Rechtsstaates. Auch Verfassungsrechtler kommen zu diesem Urteil, schränken allerdings ein, dass das Bundesverfassungsgericht da wenig ausrichten kann. Es kann allenfalls Einzelverstöße gegen das Grundgesetz beanstanden.
Die konkrete Ausgestaltung einer Politik, die zur Folge hat, dass eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung systematisch benachteiligt wird, fällt nicht in den Zuständigkeitsbereich der Karlsruher Richter. Übrigens bedeutet Armut bei Kindern und Jugendlichen immer auch eine systematische Benachteiligung in allen persönlichen und sozialen Bereichen.
Sie sind von Hause aus Psychologe. Spüren sie die Folgen dieser Benachteiligung auch in ihrer Berufspraxis?
Ja, natürlich. Ich war während meiner Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe ständig damit konfrontiert und weiß, welche Folgeschäden Armut und Benachteiligung nach sich ziehen. In den 35 Jahren meiner Berufspraxis habe ich alltäglich mit den Konsequenzen zu tun gehabt. In meiner Abteilung haben wir versucht, Hilfen für die Familien zu organisieren und mussten gleichzeitig die Erfahrung machen, dass sich das Ausmaß der Armut als ein wichtiger Grund zum Beispiel für Gesundheitsprobleme alle 10 Jahre verdoppelt hat. Während wir also versuchen, mit unserer täglichen Arbeit die Folgen der Armut zu beseitigen, werden parallel dazu Bedingungen geschaffen, die die Ursachen dieser Schäden immer vergrößern.
Es reicht also nicht, nur sozialarbeiterisch oder psychologisch gegen die Symptome anzugehen. Man muss vor allem politisch gegen die Ursachen der Armut vorgehen.
Fragen: Fabian Lambeck
»Arme Kinder – Reiches Land«, Kongress der Attac-AG »Kinderarmut und Verteilungsgerechtigkeit«, am 9. Januar von 14 bis 22 Uhr, Tollhaus Karlsruhe
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