Auch »Daisy« konnte das Gedenken nicht verhindern
Zehntausende kamen trotz Schnee und Eis zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin
Fast hätte man an diesem Sonntagmorgen meinen können, die Vereinigung von PDS und WASG zur LINKEN hätte nie stattgefunden. Unter den führenden Genossen, die an der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde Nelken und Kränze niederlegten, war kaum jemand aus den Westverbänden der Partei. Dabei hätte sich manch ein Genosse ein Zeichen der Einigkeit gewünscht. Schließlich interpretieren viele den Streit um Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch als parteiinternen Ost-West-Konflikt. Aber vielleicht bleibt das Gedenken an die im Januar 1919 ermordeten Kommunisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht doch ein Ritual der ehemaligen PDS.
In der DDR nannte sich das zeremonielle Gedenken an die beiden Arbeiterführer »Kampfdemonstration«. Noch im Jahre 1988 zählte man mehr als 200 000 Teilnehmer. Ganze Schulklassen und Brigaden nahmen an dieser Massendemonstration teil, nicht immer ganz freiwillig.
Diejenigen, die gestern nach Friedrichsfelde kamen, taten dies sehr wohl aus freien Stücken. Nach Angaben der Linkspartei waren es rund 40 000 Menschen, deutlich weniger als sonst. Schnee und Eis dürften vor allem ältere Menschen von einer Teilnahme abgehalten haben.
Das Tief »Daisy« mit seinen Schneemassen hinderte offensichtlich auch zahlreiche Parteiprominente an einem Besuch der Gedenkstätte. Anders ist kaum zu erklären, dass man selbst nach Sahra Wagenknecht vergeblich Ausschau hielt. Der feierlichen Kranzniederlegung am frühen Sonntagmorgen blieb sie jedenfalls fern.
Die heutige Klausur der Bundestagsfraktion überschattete auch das Gedenken an Rosa und Karl. Von Journalisten auf den Zwist um Dietmar Bartsch angesprochen, sagte Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi, es gäbe unabhängig von der regionalen Aufstellung auch unterschiedliche Strömungen, die sich zur Linkspartei vereinigt hätten. Gysi widersprach damit der weit verbreiteten Ansicht, der Konflikt um den Bundesgeschäftsführer sei auch ein Konflikt zwischen Ost- und Westlinken. Parteichef Lothar Bisky mahnte seine Genossen: »Wir müssen zurück zu einem Streit in der Sache.«
Während die führenden Genossen in Friedrichsfelde Interviews gaben, formierte sich einige Kilometer entfernt die »Luxemburg-Liebknecht-Demonstration«. Bei eisigen Temperaturen setzt sich der Zug in Bewegung. Die Polizei spricht später von 3000, die Veranstalter von 10 000 Teilnehmern. »Viele der Demonstranten sind bis zu 15 Stunden gefahren, um an der Demo teilzunehmen: Sie kommen aus Tschechien, Norwegen und Italien«, freut sich ein Teilnehmer. Durch ein Megafon klingt immer wieder die Frage »What Solution?« und Sprechchöre antworten »Revolution!«
Selbst die Freie Deutsche Jugend (FDJ) ist mit von der Partie. Eingehüllt in eine blaue Fahne mit aufgehender Sonne steht Michael, Mitglied der FDJ, und verkauft die aktuelle »Fanfare«. Er sei gekommen, um gegen Faschismus und Krieg zu kämpfen. »Die Jugend soll nicht ein drittes Mal gegen andere Länder marschieren.« Aus Bayern stammend, schloss er sich vor einigen Jahren der FDJ an, da er eine angemessene Organisationsform gesucht habe.
Einige Meter hinter ihm marschiert Mustafa, dessen Herz für die Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten Leninisten (TKP/ML) schlägt. Bewirken könnten sie hier zwar nicht viel, so Mustafa, aber darüber nachdenken, was Rosa und Karl vollbracht haben und warum sie umgebracht wurden, könne man schon
Timothi, eine regenbogenfarbene Flagge mit der Aufschrift »Peace« in der Hand, hält die Unversehrtheit des Lebens für wichtig: »Das kann auch eine Revolution nicht korrumpieren. Stalin und Mao passen hier nicht rein.«
Kurz vor der Abbiegung zum Lichtenberger Krankenhaus tauchen Blumenverkäufer auf. In den Armen rote Nelken, die sie einzeln für einen Euro verkaufen. In der Gudrunstraße wird die Demo ruhiger. Die ersten Polit-Stände tauchen auf, um über alle erdenklichen linken Strömungen und Ideen aufzuklären. Die Demonstranten können sich mit Glühwein und Linsensuppe aufwärmen. Klassische Musik sorgt in der Gedenkstätte für eine besinnliche Atmosphäre. Die Demonstranten legen unzählige Nelken nieder und stecken sie in den Schnee.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.