Liebesdrama zwischen den Schichten

Strindbergs »Fräulein Julie« jagt im Strandbad Steglitz ihren Verlobten davon und zerstört Hierarchien

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Nicht in der Besenkammer, sondern in der Wäscherei des stillgelegten Stadtbades Steglitz beheimatet Regisseur Stefan Neugebauer seine modernisierte Interpretation des Strindbergschen Liebesdramas »Fräulein Julie«. Gewissermaßen als Star der Produktion hat er die an der mit Theateraura versehenen Stanislawski-Schule studierende Monika Gossmann vom fernen Moskau hinweg an den Berliner Randbezirk gelotst. Sie verkörpert mit großer psychischer Wandlungsfähigkeit die Titelheldin.

Auf den ersten Blick verwundert es, dass Neugebauer diese Geschichte ausgräbt, die ihren Hauptkonflikt in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen der amourösen Handelnden hat. Adelstochter Julie lässt sich mit ihrer Dienerschaft ein. Sie jagt ihren standesgemäßen Verlobten weg, richtet einen Ball zur Mittsommernacht für die Dienerschaft aus, pickt sich den Hausangestellten Jean als Favoriten und zerstört damit nicht die gesellschaftlichen Hierarchien, sondern auch das amouröse Gleichgewicht auf dem Gut. Sind wir nicht in einer Demokratie angekommen, in der die Unterschiede von Geld, Status, Bildung und Ausbildung durch eine auf primitivem Niveau egalisierende Fernsehlandschaft weiter nivelliert werden? Kann es die Strindbergsche Spannung überhaupt geben?

Im zweiten Nachdenken erinnert man sich an all die medial ausgeschlachteten Fehltritte der Berühmten und der Stars, an Boris Beckers Ritt durch die Besenkammer, Bill Clintons Praktikantinnenaffäre, Tiger Woods' außereheliche Aktivitäten, Liz Taylors außergewöhnliches Partner-Casting.

Diese Skandale und sogenannten Skandale zeigen eins: An die Stelle der alten (adligen) Herrschaft ist die Prominenz der Schönen und Reichen geraten. Verliebt sich einer von ihnen »nach unten«, wird dies – selbst wenn der Prominente seinerseits aus den unteren Schichten der Gesellschaft aufstieg – als Mesalliance wahrgenommen. Die dort unten hingegen, die Angehörigen der sogenannten, sich immer weiter ausbreitenden und durch kulturelle Segmente erweiterten Dienstleistungsgesellschaft, orientieren sich in ihren Sehnsüchten am Beispiel der Prominenz. Sie ahmen sie in Kleidung, Aussehen und Konsumgewohnheiten nach. Und manche gewinnen, wie das Hausmädchen Christine in Strindbergs Stück, ihre Befriedigung daraus, für eine Herrschaft zu arbeiten, die sich dem konventionellen Bild entsprechend verhält.

Da die Ungleichheiten zwischen Fernsehprominenz und nicht-Fernsehprominenz gerade mit dem Zurschaustellen der innersten Begierden und Triebkräfte immer weiter zunehmen, weil es doch nur einem kleinen Kreis von Auserwählten gelingt, sich dauerhaft in diesem Karussell festzusetzen, die anderen hingegen nach kurzer Benutzung ausgequetscht am Rand liegen gelassen werden, mutet Strindbergs Stück seinem Gehalt nach verblüffend zeitgenössisch an.

Regisseur Neugebauer modernisiert es nur subtil. Die Sprache ist ein wenig frischer. Die Kostüme sind der heutigen Zeit entnommen, das Ambiente der alten Wäscherei sorgt zudem dafür, dass sich ein antiquierter Theaterton gar nicht erst einschleichen kann. Ansonsten verzichtet die Inszenierung darauf, sich an Aktualitäten abzuarbeiten. Gossmann und ihre Kollegen Michael Hecht (als Jean) und Ester Leiggener (Christine) entfalten souverän das Gefühlsspiel ihrer Figuren. Sie erlauben dem Publikum eigene Interpretationsleistungen und führen es nicht am Gängelband der schrillen Effekte.

Natürlich drohen den heutigen Julies nicht die gleichen Konsequenzen von Verachtung und Ausschluss. Die von Strindberg als reizvoll skizzierte Vitalität des Profanen ist als Triebkraft bereits bei den neuen Eliten angekommen. Dass auch in den heutigen Liebesbeziehungen ein gesellschaftliches Spannungsverhältnis herrscht, kristallisiert sich beim Betrachten dieser gut abgestimmten Inszenierung heraus. Neugebauers »Fräulein Julie« ist eine solide Arbeit an einem noch immer außergewöhnlichen Ort.

Stadtbad Steglitz, Bergstraße 90, Berlin-Steglitz, Spieltermine 21. - 23., 29., 30. 1. sowie am 12., 13. 2., 18, 20.2. jeweils 20 Uhr, Karten 15,/10, Euro, Telefon: 54 77 31 18 / 79 74 80 28

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -