• Dokumentiert

Gleichheit und Freiheit

Gregor Kritidis über die linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer

  • Lesedauer: 8 Min.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen hat dieser Tage den Politikwissenschaftler Gregor Kritidis mit ihrem Wissenschaftspreis 2010 ausgezeichnet. Gewürdigt wird Kritidis' Dissertation über die linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Kritidis, 1971 in Hameln geboren, studierte in Hannover, gehört der Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen an und arbeitet beim Online-Magazin www.sopos.org mit – sopos steht für Sozialistische Positionen. Seit 2008 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Leibniz-Universität Hannover. Er ist Mitherausgeber der Schriften Peter von Oertzens. Seine nunmehr preisgekrönte Dissertation »Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik« erschien 2008 im Offizin-Verlag Hannover. Im Folgenden dokumentieren wir die gekürzte Rede von Gregor Kritidis bei der Preisverleihung in Leipzig.
Gregor Kritidis
Gregor Kritidis

Einer der herausragenden Protagonisten der linkssozialistischen Opposition der 1950er und 1960er Jahre war der Staatsrechtler und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth. Gegenwärtig arbeitete ich an der Edition einer Auswahl seiner Briefe im Rahmen der Herausgabe seiner gesammelten Schriften. Dabei bin ich auf einem Brief gestoßen, der veranschaulicht, wie sehr Demokratie und Sozialismus für Abendroth eine unzertrennbare Einheit bildeten:

Abendroth schrieb 1961 an den Leipziger Literaturwissenschaftler Hans Mayer, den er aus der Studentenbewegung der Weimarer Republik kannte, und bat ihn, sich für das Studentenkabarett »Der Rat der Spötter« einzusetzen. Deren Mitglieder waren wegen staatsfeindlicher Propaganda von der Universität relegiert, der Leiter der Kabarettgruppe war gar verhaftet worden. Dabei hatten die »Spötter«, wie Abendroth betonte, keinesfalls prinzipiell den Sozialismus kritisiert. In der Bundesrepublik wirkten sich derartige Repressionen äußerst negativ aus, so Abendroth weiter: »Diese unglaubliche Beeinträchtigung der geistigen Freiheit und der persönlichen Sicherheit von Studenten, die auch nur die leisesten Regungen selbstständigen Denkens zeigen, wirkt unvermeidlich hier als beste Rechtfertigung jeder Form antikommunistischer Vorstellungen und als Mittel, die Entstalinisierung unglaubwürdig zu machen.«

Mayer zog eigene Erkundigungen ein und teilte Abendroth dann mit, er kenne den Fall nur vom Hörensagen und könne nicht in ein schwebendes Ermittlungsverfahren eingreifen. Man merkt schon: Hier wurde von Mayer äußerst vorsichtig taktiert, um sich nicht selbst zu gefährden. (...)

Der Briefwechsel zwischen Abendroth und Mayer zeigt nicht nur, mit welchen taktischen Argumenten die stille Diplomatie während des Kalten Krieges betrieben wurde. Er verdeutlicht auch das radikaldemokratische Selbstverständnis der Linkssozialisten in der Bundesrepublik: Die Prinzipien Gleichheit und Freiheit sollten nicht auseinandergerissen werden, für sie bildete die Zielperspektive ein demokratisch-sozialistisches Gesamtdeutschland.

Die Linkssozialisten in Westdeutschland vertraten damit eine Position, die kurz nach der Niederwerfung des Faschismus in Deutschland hegemonial war. Selbst die CDU bekannte sich unmittelbar nach 1945 zum Programm eines christlichen Sozialismus und forderte die Vergesellschaftung der Großbanken und der Schlüsselindustrien. (...) In der zeithistorischen Forschung möchten viele an diesen sozialistischen Gründungszusammenhang der frühen Bundesrepublik nur ungern erinnert werden. Seit den 1990er Jahren hat sich die These von der »Erfolgsgeschichte Bundesrepublik« durchgesetzt.

Zur Durchsetzung dieser Deutung hat die Forschung über die Herrschaftspraktiken der SED maßgeblich beigetragen; grundlegend neue Deutungen wurden in diesen Zusammenhang aber nicht entwickelt. Im Gegenteil, die zeithistorische Forschung hat mehr an das westdeutsche Selbstbild der 1950er Jahre angeschlossen, wonach die Bundesrepublik ein demokratisch legitimierter Rechtsstaat, die DDR jedoch ein historisch illegitimer Unrechtsstaat sei. Die »Geglückte Demokratie«, von der Edgar Wolfrum spricht, hat als Gegenbild die verunglückte Volksdemokratie. Nun ist die DDR kein demokratischer Rechtsstaat gewesen. Eine derart schematische Gegenüberstellung verstellt jedoch den Blick auf die Legitimationsdefizite der frühen Bundesrepublik.

Zwar wurden im Grundgesetz die liberalen Freiheitsrechte sowie das Prinzip des demokratischen und sozialen Rechtsstaates verfassungsrechtlich verankert – Abendroth hat dieses Prinzip dahingehend interpretiert, dass eine sozialistische Transformation auf der Basis des Grundgesetzes juristisch möglich und politisch geboten sei. Im Gegensatz zur DDR hat es in Westdeutschland aber weder eine Beseitigung des Besitz- noch des Bildungsmonopols der Oberschicht gegeben; die alten Funktionseliten wurden nicht dauerhaft aus ihren Positionen in der staatlichen Verwaltung, der Justiz oder dem Hochschulwesen entfernt. Die Bestrebungen der Gewerkschaften, die nach 1945 ein umfassendes Programm zur Demokratisierung der Wirtschaft vertreten hatten, wurden nach einem harten Verfassungskonflikt mit dem Betriebsverfassungsgesetz abgewehrt. Vor diesem Hintergrund wird Kurt Schumachers Vorwurf verständlich, die Regierung Adenauer wolle einen autoritären Besitzbürgerstaat etablieren.

Die ideologische Klammer zur Integration der NS-Eliten auch in höchste Staatsfunktionen einerseits, der Arbeiterbewegung andererseits bildete der Antikommunismus. Dieser richtete sich gegen den äußeren, aber fast mehr noch gegen den inneren Feind. Dieser innere Feind war nicht nur die KPD (...) Der Antikommunismus richtet sich gegen die gesamte Arbeiterbewegung und insbesondere gegen die Linkssozialisten in der SPD und den Gewerkschaften.

Jürgen Seifert hat darauf verwiesen, dass in der Ära Adenauer jegliche Gesellschaftskritik von vornherein dem Verdacht ausgesetzt war, letztlich dem Ostblock in die Hände zu spielen. Er schreibt: »Wer die persönliche Berührung mit Kommunisten nicht scheute, wurde verdächtigt, bloß weil er Kontakt hatte (Kontaktschuld). Wer Argumente vertrat, die Kommunisten auch vertraten, dem wurde (ohne sich mit dem Argument auseinanderzusetzen) ›Konsensschuld‹ vorgeworfen. Jede kritische Position wurde ausschließlich daran gemessen, wem nützt sie, ›cui bono‹: dem Westen oder dem Osten?«

Welche Auswirkungen das hatte, lässt sich am Beispiel des bedeutenden Linkssozialisten Viktor Agartz aufzeigen. Agartz, ein enger Wegbegleiter Hans Böcklers, war 1947 Wirtschaftsminister der Bizone und später Gründer des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB, Anfang der 1950er Jahre der zentrale gewerkschaftliche Think Tank der Gewerkschaften. In Zuge einer bis heute unaufgeklärten Briefaffäre wurde er 1955 kaltgestellt, 1958 wurde ihm gar mit dem Vorwurf des Landesverrates der Prozess gemacht.

Agartz hatte die von ihm herausgegebene Zeitschrift »Wiso-Korrespondenz« durch ein Sammelabonnement des FDGB indirekt finanzieren lassen. An sich war das nicht strafbar, Agartz wurde aber von der Bundesanwaltschaft eine hochverräterische Absicht vorgeworfen.

Die Zeugenaussagen prominenter Linkssozialisten wie Wolfgang Abendroth, Theo Pirker und Leo Kofler verwandelten den Gerichtssaal zu einer Lehrstunde für politische Soziologie, bei der nachgewiesen wurde, dass marxistisches Denken keinesfalls demokratischen Überzeugungen widerspricht, sondern es im Gegenteil gerade die Ausweitung des demokratischen Prinzips auf den Bereich der Wirtschaft anstrebt.

Trotz eines Freispruches in diesem neben dem KPD-Verbotsverfahren vielleicht wichtigsten politischen Prozess der frühen Bundesrepublik war Agartz in der Öffentlichkeit nachhaltig als kommunistischer fellow-traveller diskreditiert. Die Verteidiger von Agartz in diesem Prozess waren übrigens sein ehemaliger Studienfreund, der erste Innenminister im Kabinett Adenauer und spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, sowie dessen Sozius Diether Posser, der spätere Innenminister von NRW, der kürzlich verstorben ist.

Posser sprach im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Agartz von einer Art Bürgerkriegsjustiz. Von dieser justizförmigen Repression waren unmittelbar vor allem Mitglieder und Sympathisanten der KPD, aber auch alle diejenigen, die man dafür hielt, betroffen. Der Historiker Josef Foschepoth hat kürzlich die Maßlosigkeit dieser juristischen Verfolgung hervorgehoben: Nach älteren Schätzungen gab es zwischen 1949 und 1968 über 125 000 Ermittlungsverfahren wegen kommunistischer Betätigung, wobei die KPD zum Zeitpunkt ihres Verbots nur noch etwa 12 000 Mitglieder hatte. Nicht selten wurde sich dabei über rechtstaatliche Prinzipien hinweggesetzt.

In seinen Auswirkungen auf alle Dimensionen des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens ist dieser Kalte Krieg nach innen bisher noch nicht systematisch untersucht worden; dabei ist seine Entlastungsfunktion für ehemalige NS-Täter und -Mitläufer ebenso offensichtlich wie sein Beitrag zur Restauration autoritär-obrigkeitsstaatlicher Bewusstseinsformen. (...)

Neben dem KPD-Verbotsverfahren und dem Hochverrats-Prozess gegen Viktor Agartz gab es aber noch ein weiteres zentrales politisches Verfahren, das Verbotsverfahren gegen die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Als der Prozess gegen die VVN 1962 begann, musste das Verfahren jedoch ausgesetzt werden, da die VVN nachweisen konnte, dass der Vorsitzende Richter bereits vor 1933 Mitglied der SA gewesen war. (...) Bisher liegen keine übergreifenden Studien vor, welche langfristigen strukturellen Folgen das Wirken der NS-Tätergeneration in der Bundesrepublik gehabt hat. Joachim Perels hat am Beispiel der Justiz wiederholt darauf hingewiesen, dass sich diese Frage keinesfalls auf ein moralisches Problem reduzieren lässt. Ich möchte im Anschluss an Perels die These vertreten, dass etwa in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte sich bis heute eine Kontinuität obrigkeitsstaatlicher Entscheidungskategorien ausmachen lässt. (...) Damit meine ich nicht nur die Urteile, welche die Entwendung von Dingen am Arbeitsplatz betreffen, wie das Bienenstichurteil aus den 1980er Jahren und alle sich darauf beziehenden Urteile zu Mundraub und anderen Bagatellfällen. Ebenso problematisch ist die Kategorie des Allgemeinwohls, wie sie in verschiedenen Urteilen in Zusammenhang mit dem Streik der Gewerkschaft der Lokomotivführer verwendet worden ist. In mehreren Urteilen wurde das Allgemeinwohl vollkommen unkritisch mit den Interessen der Bahn-AG sowie ihrer industriellen Großkunden identifiziert. Zwar wurden alle diese Urteile von Bundesarbeitsgericht aufgehoben; beim Koalitions- und Streikrecht handelt es sich schließlich um ein Grundrecht. Aber auch diese Entscheidung des BAG lässt Interpretationsspielräume offen, und es leuchtet ein, dass jedes Gesetz nur solange bestand hat, wie eine gesellschaftspolitische Kraft seine Einhaltung garantiert.

Viele der Positionen, die der Erarbeitung des Grundgesetzes zugrunde lagen, sind in den Jahrzehnten nach seiner Verabschiedung uminterpretiert oder ausgehöhlt worden; es wurde sogar gespottet, beim Grundgesetz handele es sich um eine Loseblatt-Sammlung. Wirklich einschneidende Veränderungen des Grundgesetzes hat es aber erst nach 1990 gegeben, sodass man von einem Bruch des Verfassungskompromisses von 1948 sprechen muss.

Diese Veränderungen betreffen zum einen die Kriegseinsätze der Bundeswehr im Ausland, deren Legitimation im Rahmen des »Krieges gegen den Terror« auf einer sehr dünnen Basis steht. Zum anderen betreffen sie den mit der Agenda 2010 institutionalisierten Verstoß gegen das Sozialstaatsgebot, die Menschenwürde sowie das Recht auf freie Berufswahl. (...)

Ohne Zweifel wird der Kampf um die demokratischen Freiheiten in den nächsten Jahren im Zentrum der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung stehen. Aber diese Freiheiten sind nicht abstrakt und losgelöst von den sozialen Interessen der Mehrheit der sozial abhängigen Bevölkerung; die demokratischen Rechte werden ja deswegen eingeschränkt, um die sozialen Rechte der Menschen aufheben zu können. Es wird dabei von entscheidender Bedeutung sein, im Sinne eines Wolfgang Abendroth zwischen Staats- und Verfassungsordnung klar zu unterscheiden. Als Georg Leber, der Vorsitzende der IG Bau Steine Erden, in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze Zweifel an der Staatstreue Abendroths äußerte, war dessen Entgegnung programmatisch und traf die autoritäre Staatsfixierung Lebers im Kern: Zweifellos, so Abendroth, müssten alle Demokraten die demokratische Grundordnung schützen. Gerade deswegen dürften dem Staatsapparat jedoch nicht die Mittel an die Hand gegeben werden, die Grundrechte einzuschränken oder aufzuheben. »Wird das Ja zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der Wille zur Verteidigung des demokratischen Staates, durch das abstrakte Ja zum jeweiligen Staat, in dem wir leben, ersetzt, so ist die schiefe Ebene erneut betreten, auf der das deutsche Volk schon einmal von der Demokratie zum Unrechtsstaat abgeglitten ist.«

Viktor Agartz (Mitte) 1957 mit seinen Verteidigern Diether Posser (links) und Gustav Heinemann
Viktor Agartz (Mitte) 1957 mit seinen Verteidigern Diether Posser (links) und Gustav Heinemann
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