Anästhesie der Gefühle
»Context«-Festival im Hebbel am Ufer
Nicht genug, dass viel Unheil auf dieser Welt passiert, vom Amoklauf bis zu Naturkatastrophen biblischen Ausmaßes, heizen die Medien durch Ausstellen krimineller Energien zusätzlich noch tüchtig ein. Ein Blick auf die Krimi-Toten und auf perfide Cinema-Mord-Mechanismen, wie sie an einem beliebigen Tag Fernsehjournale unterm Deckmäntelchen der Psychologisierung offerieren, macht das klar. Selbstmordattentätern, Amokläufern einerseits, die, aus welchen Motiven auch immer, exzessiv Gefühle ausleben, steht im Alltag als Pendant und höchste Stufe zeitgemäßen Verhaltens Coolness gegenüber: sich über nichts aufregen, alles gelassen akzeptieren. Welche und wie viele Gefühle sind heute erlaubt, haben wir überhaupt noch Gefühle?
Sind wir schon so abgestumpft, dass uns in den TV-Nachrichten die Toten des Tages, schön zweidimensional auf die Scheibe gebannt, kaum mehr berühren als das verpatzte Fußballspiel? Das Hebbel am Ufer konstatiert im Titel seines siebten »Context«-Festivals provokant eine »Anästhesie der Gefühle«. Nun ist Kunst nicht das Leben, kann ihm in ihren Produktionen jedoch nachspüren und dabei selbst Emotionen erzeugen. Das tun 17 Januar-Februar-Tage lang im Rahmen jener »Plattform für zeitgenössischen Tanz« zehn Beiträge aus den Bereichen Tanz, Performance, Installation.
Nächtlichen Träumen, wie sie ihnen Bekannte anvertraut haben, forschen im eröffnenden Gruppenstück »Sweet Dreams Are Made« Simone Aughterlony und Isabelle Schad nach. Dass dabei Bilder und Szenen entstehen, die an Filme von Bunuel, Lynch, Romero erinnern, ist beabsichtigt. Zu später Stunde am selben Tag stellt Mette Ingvartsen »Evaporated Landscape« vor, eine performative Installation zum Phänomen des Flüchtigen. Statt Körpern agieren auf der Szene Licht, Klang, Nebel, Schaum und imitieren natürliche Landschaften.
Zum Club Transmediale wird das HAU 2, wenn in dessen 11. Ausgabe der Klangkünstler Jacob Kirkegaard »Sabulation« uraufführt. Hierzu hat er in den Wüsten des Oman die Einzeltöne von Dünen herabrutschender Sandkörner aufgezeichnet und summiert sie auf einer bestimmten Frequenz zu gewaltigem Tief-Ton; Videobilder ergänzen. Spannend könnte die Wiederbegegnung mit dem Japaner Hiroaki Umeda sein, der ganz in Weiß zu synthetischem Klang im Schwarz-Weiß-Raster einer Videoprojektion tanzt, zu einer »Störung« wird: »Adapting For Distortion«.
Anderweitig emotional dürfte es zugehen, wenn Vanessa Van Damme in »Look Mummy, I’m Dancing« ihre Lebensgeschichte erzählt. Aus einem schüchternen Jungen ließ sie sich 1975 in Marokko zur Frau umwandeln, schildert das schmerzreiche Tasten nach ihrer Identität. Gehörte sie der Company von Alain Platel an, trat Carlotta Sagna mit Jan Lauwers’ Needcompany auf. In ihrem Solo »Ad Vitam« versetzt sie sich in einen psychotischen Menschen, sucht nach Bildern und Worten für dessen Innenwahrnehmung.
Die zweite performative Installation zeigt Ibrahim Quraishi: Angst und Lust zwischen einem ungleichen Paar bilden das Zentrum von »Wild Life Take Away Station«. In »NieuwZwart« entwirft Wim Vandekeybus mit seiner rigorosen Bewegungssprache ein düsteres Szenario aus mythischen Bildern und Schockeffekten um Leben und Überleben; Rockmusik und Text begleiten. Den Nahostkonflikt thematisiert der amerikanisch-palästinensische Choreograf Tarek Halaby. Sein Solo »Finally, I am no one« tanzt er vermummt hinter weißem Perlenvorhang und wird dabei gefilmt; seinen auf den Vorhang projizierten Tanz überlagern Videos von Gefangenen, Bombenlegern, Selbstmördern. »Actually, I am someone« heißt die Begleitausstellung.
26.1. bis 6.2. im HAU, Karten unter 25 90 04 27, Informationen: www.hebbel-am-ufer.de
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