Juwelen für arme Leute
Wer war Bertolt Brecht? 59 Ansichten in einem Buch von Erdmut Wizisla
Sie saßen beim Kognak und philosophierten über den Nachruhm. Hermann Kesten, der Lektor, ziemlich skeptisch in dieser Frage, war der Ansicht, die Nachwelt habe weder mehr Geschmack noch Verstand als die Gegenwart, und sie sei außerdem vergesslich. Gustav Kiepenheuer, der Verleger, einen Hauch optimistischer, meinte indes, vielleicht würden Benn und Brecht bleiben. Seinen anderen Autoren räumte er kaum Chancen ein, nicht Feuchtwanger, der damals schon glänzende Auflagen erreichte, nicht Arnold Zweig, dessen Welterfolg »Der Streit um den Sergeanten Grischa« er 1927 herausgebracht hatte, weder Georg Kaiser noch Ernst Toller und schon gar nicht Franz Kafka, von dem er nur wenige hundert Exemplare verkaufte. Nur bei Kafka irrte er gewaltig.
Man liest diese Episode aus dem Jahr 1930 in einer Erinnerung Kestens an Brecht, neu veröffentlicht in einem Buch, das 59 Berichte über den Stückeschreiber und Dichter sammelt, ganz subjektive Urteile und Beschreibungen, Zeugnisse der Faszination, manchmal auch der Aversion. Der Fall ist bemerkenswert: Kein Autor des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Zeitgenossen, die ihn kennenlernten, mit ihm arbeiteten, die in seinen Bann gerieten oder in Gegnerschaft, so beschäftigt, gar so zahlreich zur Zeugenschaft animiert wie Brecht. Mancher entschloss sich gleich zu einem Buch: der Bruder Walter, Paula Banholzer (die Bi der frühen Jahre und Mutter seines Sohnes Frank), die Jugendgefährten Werner Frisch und K. W. Obermeier, Hanns Otto Münsterer, Arnolt Bronnen oder Hans Mayer. Dazu gesellen sich, weit verstreut, Erinnerungsstücke in solcher Fülle, dass man schon längst die Übersicht verloren hat. 1984 hat Hubert Witt eine ansehnliche Zahl solcher Berichte erstmals in einem imposanten Reclam-Band gebündelt. Es ist lange her. Erdmut Wizisla, der Leiter des Berliner Brecht-Archivs, fand es mit Recht an der Zeit, eine neue Sammlung vorzulegen, natürlich auch mit Beiträgen, die inzwischen dazukamen, ergänzt um zwei Texte, die extra für diesen Band geschrieben wurden.
Wer war Brecht, fragt der Herausgeber und weiß natürlich, dass es eine einfache, griffige Antwort nicht gibt. Es braucht eben diese 59 Beiträge, um zu einem halbwegs tauglichen Bild zu kommen. Es ist kantig und widersprüchlich genug. Er war ein Genie, sagt Hans Sahl, der die Differenzen nicht unterschlägt, sagt auch Dora Mannheim. Kurt Kläber rühmt Brechts Kameradschaft, für George Grosz war er ein »netter Kerl«, ein »ulkiges Haus«, ein »strenger Marxist«. Peter Huchel beschreibt ihn als »listigen Realisten«. Salka Viertel betont seine »exklusive Einfachheit«. Er sah aus wie ein chinesischer Weiser, sagt sie. Nein, widerspricht Christopher Isherwood ein paar Seiten zuvor, eher wie ein Sträfling. Erwin Piscator, drastischer noch, spricht gar von einer »Verbrecherphysiognomie«.
Immerhin: Beinahe keiner in diesem Band versäumt es, auf die äußere Erscheinung Brechts einzugehen. Er fiel auf, schon sehr früh. Dunkle Augen, wacher Blick. Ein schmächtiges, schlecht rasiertes Kerlchen. Verwahrloste Kleidung, hohe Stimme und meckerndes Lachen, sprühende Intelligenz, dabei ungeheuer selbstbewusst, überlegen, neugierig, so zärtlich wie derb. Noch im Alter wird Brecht sich so lässig und eigenwillig geben wie in den genialischen Anfängen.
Erdmut Wizisla hat, anders als Hubert Witt, alles weggelassen, was nicht auf die unmittelbare Anschauung zurückgeht. Hier wird nichts interpretiert oder untersucht, und sei es noch so nützlich und gescheit. Hier dominiert die Erinnerung, die Wiedergabe persönlicher Eindrücke. Daher die ungeheure Lebendigkeit dieses Buchs, seine Spannung, seine Farbigkeit. Vorn, in den ersten Beiträgen, sieht man den jungen Brecht, wild, anarchisch, fordernd, aber auch einsichtig. Oskar Maria Graf, eine Zeitlang an einem Münchner Arbeitertheater beschäftigt, erzählt, wie es kam, dass er »Trommeln in der Nacht«, das ihm der Besucher vorlegte, nach einem kurzen Blick ins Personenverzeichnis ablehnte.
Arnolt Bronnen erlebte mit Brecht, der sein Stück »Vatermord« inszenieren sollte, aber die Arbeit hinwarf, einen Reinfall, zu dem ihm der Freund auch noch gratulierte. Kurt Kläber berichtet von den Tagen im Schweizer Exil und vom breiten Spruchband, das Brecht in seinem Zimmer befestigt hatte: Die Wahrheit ist konkret. Kesten notiert ein Streitgespräch, Ruth Berlau die erste Begegnung, Leopold Lindtberg, Max Frisch und Günter Weisenborn reflektieren die Züricher Wochen nach Brechts Rückkehr aus dem Exil, Gustav Just ein Treffen in Buckow, Regine Lutz und Erwin Leiser die Probenarbeit im Berliner Ensemble, Peter Voigt die letzte Spielzeit, Vladimir Pozner die Gespräche kurz vor Brechts Tod.
Das Wort haben die Bewunderer, die in der Mehrzahl sind, aber auch Verstörte, Empörte oder Gegner wie der amerikanische Politologe Sidney Hook, der sich früher zu den Marxisten rechnete und dem Brecht auf die Frage nach den Opfern der Moskauer Prozesse zynisch und provokant geantwortet haben soll: »Was die betrifft, je unschuldiger sie sind, um so mehr verdienen sie zu sterben.«
Bunter, anschaulicher kann man sich das Bild Brechts gar nicht denken. Gewiss, mancher Text, der hier steht, ist seit langem bekannt. Es gibt aber auch überraschende Entdeckungen, Funde, die in entlegenen Winkeln gelangen, etwa jene zwei Seiten, die Wizisla einem Erinnerungsbuch der Schauspielerin Shelley Winters entnahm. Da erzählt die Amerikanerin, wie sie am Beginn ihrer Karriere 1950 bei den Proben zum »Galilei« in Hollywood einen Mann in grünem Overall beobachtete, der Papier aufsammelte und den sie für den Hausmeister hielt. Sie nahm ihn, weil er hungrig aussah und mit deutschem Akzent sprach, mit zu ihren Eltern, ihr Vater freundete sich mit ihm an, und nach vielen Jahren, nun in New York, sah sie, vollkommen verblüfft, in der Theaterinszenierung »Brecht über Brecht« auf einem Bild den Freund ihres Vaters. Sie wunderte sich. Sie erfuhr, das sei Brecht. Sie fragte die Mutter nach dem damaligen Besucher. Er hieß Brechtstein, sagte die. Nein, der Dichter Brecht war es nicht. Er habe mit Schmuck zu tun gehabt, denn einmal sei der Gast nach seiner Arbeit in der Heimat gefragt worden. Und er habe geantwortet, dass er bei sich zu Hause Juwelen für arme Leute mache.
Begegnungen mit Brecht. Hg. von Erdmut Wizisla. Lehmstedt Verlag. 400 S., geb., 19,90 €.
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