Ein Fall für die Gerichtsbarkeit?

Verfahren gegen Mutter wegen Verletzung der Fürsorgepflicht eingestellt

  • Lesedauer: 3 Min.
Peter Kirschey berichtet aus Berliner Gerichtssälen.
Peter Kirschey berichtet aus Berliner Gerichtssälen.

Zunächst einmal verdient die 42-jährige Angeklagte Andrea W. aufrichtigen Respekt. Sie hat elf Kinder zur Welt gebracht, zehn leben noch in ihrem Haushalt in Hellersdorf. Dass es bei der alleinstehenden Hausfrau nicht immer alles rund läuft, wer würde das kritisieren wollen. Doch nun steht sie vor Gericht. Wegen Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht.

Am 11. Juni 2009 waren ihre beiden jüngsten Mädchen, damals drei und fünf Jahre alt, in Wohnungsnähe an der Tankstelle des Einkaufsparks Eiche weinend von der Polizei aufgegriffen worden. Es regnete, und die Kinder waren völlig durchnässt. Bei einer medizinischen Untersuchung wurde festgestellt, dass ihr Gesundheitszustand zu wünschen übrig lässt.

Keine dramatischer Zustand, keine offensichtlichen Spuren von Gewalt oder Verwahrlosung. Aber auffällig insoweit, dass Jugendamt und Polizei den Vorfall registrierten und daraus eine Anklage entstand. Sie habe ihre Kinder in Gefahr gebracht, »in der körperlichen und psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden und einen kriminellen Lebenswandel zu führen«. Wie kommen Polizei und Staatsanwaltschaft zu der Schlussfolgerung, dass bei den beiden Kindern die Gefahr einer kriminellen Laufbahn besteht? Dürfen solche Verdächtigungen überhaupt in die Welt gesetzt werden, wenn es bisher keine erkennbaren Tendenzen gegeben hat, dass die beiden Kleinen der Fürsorge ihrer Mutter entgleiten?

Ja, es gab einen Zwischenfall. Am 29. Mai waren die beiden Mädchen mit Süßigkeiten erwischt worden, die sie aus dem Regal einer Kaufhalle genommen hatten. »Die jüngsten Diebe Berlins auf frischer Tat erwischt«, titelten damals einige Großbuchstabenzeitungen, färbten das Geschehen in dramatischer Weise aus und sagten den Kindern eine kriminelle Karriere voraus. Das hat offensichtlich bei Behörden Wirkung hinterlassen. Während solch ein Fall normalerweise mit einigen mahnenden Worten endet, führte es hier zu einem Ermittlungsverfahren wegen Ladendiebstahls. Und nachdem die Kinder 14 Tage später im Regen standen, stand die Familie ohne Vater erneut im Visier der Ermittler. Schnell landet man in einer Schublade, wo man eigentlich gar nicht reingehört.

Es war ein Fehler, erklärte die Mutter dem Richter. Doch bisher habe es immer geklappt, dass die Älteren auf die Jüngeren aufpassen, wenn sie unterwegs ist. So war es auch an diesem Tage. Sie musste einkaufen, und der älteste Sohn sollte die Mädchen auf dem Spielplatz im Blick haben. Das hat er für einige Minuten unterlassen, und die Kinder verschwanden, als es zu regnen begonnen hatte. So etwas wird künftig nicht mehr vorkommen. Überlastet mit der Kindererziehung sei sie nicht. Den Beruf als Hausfrau fülle sie mit der notwendigen Verantwortung aus und das schon seit 24 Jahren. Und nie zuvor sei irgend etwas passiert.

Auch der Richter beim Amtsgericht Tiergarten kam zu dem Ergebnis, dass das Geschehen nicht für eine Verurteilung geeignet ist und stellte das Verfahren im Einverständnis mit der Staatsanwaltschaft ein. Nicht aber, ohne ein paar mahnende Worte an die 42-Jährige zu richten. Kinder müssten stets ausreichend beaufsichtigt werden. Wer sollte das bestreiten. Und er regte eine engere Zusammenarbeit mit dem Jugendamt an.

Alleinerziehende Mütter oder Väter haben es in einer Welt sozialer Kälte und des Rechts des Stärkeren besonders schwer, den Alltag zu meistern. Andrea W. scheint jedoch nicht zu den Frauen zu gehören, die sich von den Herausforderungen, eine vielköpfige Familie zu führen, unterkriegen lassen.

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