Die Schrecken der Oberschicht
Eine kleine Geschichtslektion zu spätrömischer Dekadenz
»Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.« Wen meinte der FDP-Chef und deutsche Außenminister Guido Westerwelle damit? Und wie war es in Rom, das er zum Vergleich heranzog? Lebten in den Grenzen des gewaltigen römischen Imperiums tatsächlich alle Völker und Volksschichten in einem Wohlstand, der mit staatlicher Hilfe zu »spätrömischer Dekadenz« ausartete und so den Untergang des Reiches begünstigte und zwangsläufig werden ließ? Westerwelle scheint mit der leicht dahin gedroschenen Phrase in gut deutscher PISA-Bildungsmisere einiges verwechselt oder falsch verstanden zu haben.
Zumindest auf die elf Millionen Deutsche, die in Armut bzw. an deren Rande leben, kann sich der Vorwurf »spätrömischer Dekadenz« nicht beziehen. Sie dürften nicht in der Lage sein, bei klammer Kasse den Tisch alltäglich mit Genussmitteln, gekauft in den Schlemmeretagen großer Kaufhäuser, zu decken oder sich allabendlich in den Schlemmerlokalen der nächsten Umgebung zu vergnügen. Gleiches betrifft die immer schmaler werdende soziale Mitte. Dass es neben dem Gros der Arbeitswilligen auch ein Lumpenproletariat gibt, das geregelte Arbeit scheut und sich mit dem zufrieden zeigt, was der Staat ihm an Unterstützung zubilligt und in Aussicht stellt, ist nicht zu leugnen. Dieses wirklich asoziale Element der »spätrömischen Dekadenz« zu bezichtigen, wäre aber ebenso absurd.
Nun zu Rom. Die hier in spätrepublikanischer Zeit, im 1. Jahrhundert v. u. Z., also im Jahrhundert Cäsars, des Lukullus, Crassus oder Pompeius, als Dekadenz in Lebensweise und Lebensstil bezeichnete Verschwendungssucht war einzig – jedoch mit Einschränkungen – an die römische Oberschicht geknüpft: an das stadtrömische Patriziat, einige sehr reich gewordene Ritter und einige freigelassene Sklaven. Rom war zur Weltmacht emporgestiegen, und ungeheure Reichtümer ergossen sich aus den eroberten Gebieten in die Stadt am Tiber. Cäsar war im besetzten Gallien zu großem Vermögen gelangt und von Varus, später in Germanien besiegt, sagte man, er sei als armer Mann nach Syrien gekommen und hätte reich das arme Land verlassen.
Der in diesen Kreisen übliche Luxus erstreckte sich auf Speise und Trank, städtische Paläste, Villen und Gärten, auf Kleidung, Schmuck und Kunst. Auf die Tische kamen Austern aus Tarent, Kaviar vom Schwarzen Meer, feine griechische Weine, Rosinen von den ägäischen Inseln, Pfauen aus Persien, ägyptische Datteln, kurzum Leckerbissen aus allen Ecken und Winkeln des Imperiums. Die Köche wetteiferten in der Zubereitung ausgefallener Speisen. Verwendet wurden Makrelenleber, Fasanenhirne, Flamingozungen, Muränenmilch, Perlhühner aus Numidien und natürlich verschiedenes Wild. Die Räume, in denen getafelt wurde, waren mit Marmor, gediegenem Mobiliar, Bildern, Statuen und anderem Zierrat ausgestattet und mit vielen Blumen geschmückt. Luxus, Prunk und Raffinement der Tafelgenüsse kannten keine Grenzen. Nach überreichlichem Essen wurden Brechmittel eingenommen, um sich – aus gesundheitlichen Gründen – zu erleichtern. Zugespitzt schreibt Seneca später, dass es Feinschmecker und Vielfraße gab, die »spieen, um zu essen, aßen, um zu speien, und die aus allen Weltteilen zusammengebrachten Mahlzeiten nicht einmal verdauen wollten«.
Geht man von dieser Art römischer Dekadenz aus, dann richtet sich Westerwelles Warnung weniger an das gemeine deutsche Volk, sondern vielmehr an die deutsche Oberschicht, an seinesgleichen und jene Schmarotzer, die nicht von eigener Arbeit leben, höhere Diäten einfordern, grandiose Jahreseinkommen haben, Bonuszahlungen erhalten oder mit Geld und anderen Werten spekulieren und eine Gefahr für die Existenz der freiheitlich demokratischen Gesellschaft und ihrer produktiv-materiellen Basis darstellen.
Vielleicht aber meinte der FDP-Chef mit seinem Spruch gar nicht diese spezielle Form der Dekadenz, sondern zielte auf eine Erscheinung im späten Rom, die einen ganz anderen und schon systemischen Charakter trug. Es war in Roms Gesellschaft üblich, Bedürftigen innerhalb der Familie beizustehen, oder diese über das Klientelwesen mit dem zum Leben Notwendigsten zu versorgen, mit Lebensmitteln und Geldgeschenken. Das förderte Abhängigkeiten, die sich in Verpflichtungen dem Pater familias oder dem Patron gegenüber wandelten und seitens der Klienten bis zur offenen Unterstützung des Spenders im römischen Parteienkampf reichen konnten. Die private Alimentation wurde allmählich durch eine staatliche Fürsorge ergänzt, die sich auf mehr oder weniger regelmäßige Getreidespenden an die römische Stadtbevölkerung beschränkte. Das wiederum setzte voraus, dass Roms Provinzen genügend Getreide an die Stadt Rom abzugeben vermochten (eine Art von Getreidesteuer).
Ein Teufelskreis tat sich auf: Rom musste stark sein, um Kriegsbeute zu machen, die Provinzen zu Abgaben an Rom anzuhalten. Floss genug Reichtum als Zusatzprodukt nach Rom, konnten die römischen Patrizier und der Staat den einfachen Stadtrömern großzügige Geschenke machen. Blieben diese Zugabe in der Versorgung für längere Zeit aus, drohten Mangel, Hunger und Aufstände. Letztere versuchte man um jeden Preis zu verhindern, denn sie bedrohten von innen das bestehende Machtgefüge, hatten politische Disharmonien zu Folge und rüttelten zum Schrecken der römischen Oberschicht am System ihrer Herrschaft.
Unser Autor ist Professor für Alte Geschichte.
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