Am Rande tosenden Lebens
Willy-Brandt-Haus zeigt Ausstellung von Erich-Salomon-Preisträgerin Sylvia Plachy
Das Foto ist von hinten aufgenommen, hochkant und schwarz-weiß. Man sieht Reihen identischer Stuhllehnen, darüber ragen viele weiße und einige dunkle Haarschöpfe, auch ein paar kahle Köpfe sind dabei. Es könnte überall sein, doch die Fotografin Sylvia Plachy hat das Bild 1989 im Palast der Republik aufgenommen: Die DDR feierte damals ihren 40. Jahrestag, zum letzten Mal waren das Zentralkomitee der SED, der Staatsrat und Ehrengäste zusammengekommen, um sich selbst zu feiern.
»Waiting« heißt die Ausstellung im Willy-Brandt-Haus, mit der die Ausnahmefotografin Sylvia Plachy gewürdigt wird. Im Februar war sie dort mit dem Erich-Salomon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) ausgezeichnet worden. Plachys Bildwelt ist poetisch und melancholisch, zugleich oft witzig oder skurril und bisweilen auch ernüchternd – aber immer bewegend, begründete die DGPh ihre Wahl.
Geboren wurde Plachy 1943 in Budapest. Nach dem niedergeschlagenen Aufstand in Ungarn 1956 wanderten ihre Eltern mit der damals 13-Jährigen in die USA aus. Acht Jahre später begann die junge Frau zu fotografieren – und wusste schnell, dass sie das richtige Medium gefunden hatte.
Mehr als 30 Jahre arbeitete sie für das New Yorker Magazin Village Voice, daneben für international renommierte Publikationen wie Newsweek, GEO, Vogue und Time Magazine, brachte Bücher heraus und hat zahlreiche teils dauerhafte Ausstellungen in Museen. »Mich interessiert, was unter der Oberfläche steckt«, erzählt sie in einem Interview, das in der Ausstellung gezeigt wird.
Das merkt man. Plachy ist keine aggressive Fotografin, vielmehr spürt man Verständnis und Menschlichkeit, wenn man ihre Bilder betrachtet. Sie rühren das Herz des Betrachters und stehen damit in der Tradition moderner Dokumentarfotografen wie »Magnum«-Begründer Henrie Cartier-Bresson oder André Kertesz, ihrem Mentor. Das trifft auf ihre Landschaftsbilder, oft im breiten Panoramaformat, ebenso zu wie auf ihre Fotos von Städten und ihre Porträts von Berühmtheiten wie Andy Warhol, Fassbinder, Hubert Selby jr. (mit Vogel auf der Schulter) oder ihrem Sohn, dem Schauspieler Adrien Brody – aber auch auf die Bildnisse von normalen oder am Rande der Gesellschaft stehenden Menschen. Eines der anrührendsten Bilder der Ausstellung zeigt einen jungen, etwa 35-jährigen Mann im Krankenbett. Im Arm hält der den »Teddy, den ihm seine Mutter gab«, wie der Titel des Fotos lautet.
Überhaupt stehen meist Menschen im Mittelpunkt der überwiegend in schwarz-weiß gehaltenen Arbeiten. Plachy hat kambodschanische Flüchtlinge in der Bronx fotografiert und Obdachlose in Chelsea, hoffnungsvoll grinsende Waisenkinder in Rumänien und Go-go-Girls in Las Vegas.
Und wo Menschen fehlen, sieht man Tiere – wie einen großartig fotografierten Goldfisch im Glas oder eine Gans auf einem Tuch, die zwischen den Unterschenkeln eines Mannes hockt. »Gans zu verkaufen« lautet der Titel dieses in Ungarn aufgenommenen Bildes. Immer wieder kehrte Plachy mit der Kamera in ihre Heimat zurück. Auch lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs erforschte sie das Alltagsleben in Ungarn, Rumänien, Belgrad, reiste aber auch durch Nicaragua, den Kongo und Ruanda.
Die Künstlerin fixiert kleine, stille Momente am Rande tosenden Lebens oder geschichtlicher Ereignisse – mit einer Sensibilität, die den Betrachter nicht zum Voyeur machen, sondern ihn einladen, an einem Augenblick teilzuhaben.
Bis 7.4., geöffnet Di.-So. 12-18 Uhr, Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28, Kreuzberg; Eintritt frei, Ausweis mit Lichtbild erforderlich, weitere Informationen: www.willy-brandt-haus.de
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