Der Mitschüler und der Soldat

Persönliche Anmerkungen zum Sowjetisch-Finnischen Winterkrieg 1939/40

  • Ronald Lötzsch
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit großem Interesse habe ich den Beitrag »Der schwierige Weg zum Frieden« von Manfred Menger über das Ende des Sowjetisch-Finnischen Winterkriegs gelesen. (ND v. 13./14.3.) Moskau hatte sich zu einer Aggression hinreißen lassen, der Kreml sich einer großen Illusion hingegeben. Man glaubte, die Finnen würden angesichts der großen Übermacht der Angreifer nach kurzer Zeit die Waffen strecken. Doch die Überfallenen verteidigten ihre Unabhängigkeit buchstäblich »mit Zähnen und Klauen«. Die Verluste der Roten Armee überstiegen alle Befürchtungen. Die Weltöffentlichkeit, soweit sie nicht zu Hitlers Komplizenschaft gehörte, reagierte auf die sowjetische Aggression verständlicherweise mit einem Sturm der Entrüstung.

Ich selbst erfuhr vom Sowjetisch-Finnischen Winterkrieg als ABC-Schütze in meinem erzgebirgischen Heimatdorf. Zum Jahrgang 1931 gehörend, war ich Ostern 1938 eingeschult worden. Im Winter 1939/40 tauchte plötzlich ein schmächtiger Junge in unserer Klasse auf, der vorher mit seinen Eltern in Helsinki gelebt hatte. Er hieß Jürgen Köhler. Sein Vater stammte aus unserem Dorf, hatte aber dann in Finnland Arbeit gefunden. Jürgen erzählte mir und anderen Klassenkameraden von den Stunden, die sie im Keller verbringen mussten, wenn die sowjetische Luftwaffe die finnische Hauptstadt bombardierte. Er zeigte uns auch seine Schulbücher. Diese interessierten mich ganz besonders wie alles, was mit Sprachunterschieden zusammenhing. Er besaß sie in zwei Sprachen, in Finnisch und Schwedisch. Warum Finnland zwei offizielle Sprachen besitzt, habe ich nicht erst als Student erfahren. Denn wie schon angedeutet, Literatur über Sprachen habe ich lange vor dem Studium förmlich verschlungen.

Im Leningrader Studentenheim, das von 1951 bis 1956 mein Zuhause war, gehörte dann eine Zeit lang zu meinen Zimmergenossen auch ein symphatischer 30-Jähriger, der als junger Soldat am Winterkrieg teilgenommen hatte und verwundet worden war. Er studierte Journalistik, war überzeugter Kommunist und Parteimitglied. Die offizielle sowjetische Darstellung von Ursachen, Verlauf und Ergebnis des Winterkrieges unterlag für ihn nicht dem geringsten Zweifel.

Als der XX. Parteitag der KPdSU tagte und mit einigen stalinistischen Legenden wenigstens teilweise aufräumte, stand ich vor dem Staatsexamen. Zur Vorbereitung darauf nutzten wir die Bibliothek der Leningrader Filiale der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften. Wir studierten Jahrgänge der »Prawda«, des Zentralorgans der KPdSU, aus den 30er Jahren. Aus ihnen erfuhren wir nun zum Beispiel, wie Stalin seinem »Freund« Hitler überschwenglich für Geburtstagswünsche dankte und dabei die »mit Blut getränkte sowjetisch-deutsche Freundschaft« beschwor. Ge-meint waren die polnischen Verluste bei der im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vereinbarten Besetzung Ostpolens durch die Rote Armee.

Eines Tages stieß ich beim Blättern in der »Prawda« auf einen »Vertrag« zwischen der UdSSR und einer gleichzeitig mit Kriegsbeginn proklamierten »Finnischen Republik«. Mein Fach war die russische Philologie. Mein erhöhtes Interesse für die Zeitgeschichte kam erst später auf, in dem Maße, wie wir auch frei darüber reden und schreiben durften. Notizen habe ich mir also damals keine gemacht. Es kann auch sein, dass uns untersagt wurde, solche anzufertigen. Fest eingeprägt haben sich mir folgende Punkte: Als Regierungschef, Außen- und Innenminister hatte Otto Wilgelmowitsch Kuusinnen unterzeichnet. Er muss in Moskau schon einen höheren Posten bekleidet haben, denn sein Name war mir ein Begriff. Nach der Einnahme von Helsinki sollte die Regierung »erweitert« werden. Mit der »Finnischen Republik« sollte die zur Rußländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik gehörende Karelo-Finnische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik vereinigt werden. Damit werde ein Wunsch erfüllt, hieß es, den die beiden sprachlich und kulturell nächstverwandten ostseefinnischen Völker, das finnische und das karelische, angeblich seit Jahrhunderten hegten.

Der »Vertrag« wurde mit Beginn des Überfalls veröffentlicht. Das Kriegsziel des Kreml war zweifelsfrei die Annexion ganz Finnlands. Der Plan scheiterte am Widerstand des finnischen Volkes. Die Karelische Autonome Republik wurde »aufgewertet« zur Republik ohne »autonomen« Status. Otto Kusinnen wurde abgefunden mit dem Posten des Vorsitzenden des Präsidiums ihres Obersten Sowjets.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus:
- Anzeige -
- Anzeige -