Zu viel Bespaßung in St. Pauli
In Hamburgs berühmtestes Viertel ziehen die Besserverdienenden
»St. Pauli – Kalter Wind in Hamburgs größten Partykeller«, überschrieb eine große Hamburger Tageszeitung 1997 ihren Bericht über den weltbekannten Stadtteil. Die Rede war von rivalisierenden Zuhälterbanden und Drogengeschäften. Das berühmte Hafenkrankenhaus hatte gerade seine Pforten geschlossen, das Aus für die Bavaria-Brauerei nach 350 Jahren war beschlossene Sache. Zahlreiche Immobilien an der Reeperbahn standen leer, viele Wohnungen zwischen Hafenstraße und Neuem Pferdemarkt waren heruntergekommen. Von »sozialem Sprengstoff«, der langsam detoniere, war die Rede. Ende 1996 lebte jeder sechste der 31 385 Einwohner von Sozialhilfe, viele Billighotels waren mit Flüchtlingen belegt, Arbeits- und Obdachlosigkeit nahmen zu, die Kriminalitätsrate stieg.
Der Senat reagierte damit, »St. Pauli S5 Wohlwillstraße« zum Sanierungsgebiet zu erklären. Er leitete so den Wandel ein, der von der Stadtentwicklungsgesellschaft (Steg) im Auftrag der Stadt moderiert wird. Zu den begleitenden Maßnahmen gehörte das Schließen der Bordelle am Hamburger Berg und in der Paul-Roosen-Straße, der Drogenhandel dort wurde unterbunden.
Die Zahl der Wohnungen stieg im Sanierungsgebiet von 3759 im Jahr 1997 auf 3929 im Dezember 2009. Bis 2013 sollen 450 neue Wohnungen entstehen und 290 mit Hilfe öffentlicher Förderung saniert werden. Bereits heute erstrahlt das Gebiet zwischen Reeperbahn, Otzenstraße, Kleiner Freiheit und Detlev-Bremer-Straße in neuem Glanz. Auch die andere Seite der Reeperbahn hat sich stark verändert. Auf dem Gelände der ehemaligen Bavaria-Brauerei ist, flankiert vom neuen Empire Riverside Hotel, ein neues urbanes Quartier entstanden. Einen Steinwurf von der berühmt-berüchtigten Hafenstraße entfernt ist das umstrittene Bernhard-Nocht-Quartier (BNQ) im Werden. Das neue Entrée der Reeperbahn werden ab 2012 die »Tanzende Türme« genannten Bürohochhäuser des Stararchitekten Hadi Teherani bilden, zusammen mit dem benachbarten Hotel Onyx.
Das Schmuddelimage des Stadtteils dürfte dann endgültig der Vergangenheit angehören – mit der Folge dramatisch steigender Mieten. Die aktuelle Marktmiete aller in St. Pauli angebotenen Wohnungen beträgt laut einer Studie des Hamburger Immobilienforschungsinstituts F+B durchschnittlich 10,22 Euro pro Quadratmeter. Damit gehört das Rotlichtviertel zu den Top Ten in der Hansestadt und bewegt sich auf dem Niveau von Eppendorf, Uhlenhorst und Groß Flottbek. »Auf dem Neuvermietungsmarkt sind die Sprünge überdeutlich. Die Mieten sind explodiert«, sagt Andreas Riedel von F+B: »Die Vermieter werden jede Wohnung los – der Preis spielt keine Rolle mehr.«
Hier die Armen, dort die Gutverdiener
Beispiel Bavaria-Quartier: Die durchschnittliche Miete für die am Elbufer gebauten Genossenschaftswohnungen beträgt elf Euro pro Quadratmeter, privat vermieteter Wohnraum kostet dort über 15 Euro. F+B zufolge stellt sich rechts und links der Reeperbahn ein »sehr rascher Vermietungserfolg« ein. »St. Pauli zeigt sich als echter Gewinnerstadtteil«, bilanziert Geschäftsführer Bernd Leutner und attestiert dem Stadtteil eine »interessante Marktprognose«.
St. Pauli ist hip. Der vor 20 Jahren zum Studieren nach Hamburg gezogene Andy Grote hat den Wandel miterlebt. Der 41-jährige Jurist, der für die SPD in der Hamburgischen Bürgerschaft sitzt, lebt seit zehn Jahren in St. Pauli. »Der Stadtteil hat sich seit meinem Zuzug überwiegend positiv verändert«, sagt Grote: »Es ist viel Gebäudebestand saniert worden, darunter in der Substanz gefährdete Altbauten.« Zwar gebe es immer noch günstige Wohnungen wie jene in den Häusern Wohlwillstraße 19 bis 23, die sich im Treuhand-Eigentum der Steg befinden und für 5,20 Euro pro Quadratmeter weit unter dem Marktpreis vermietet werden. Aber das sei die Ausnahme: »St. Pauli ist mittlerweile ein gespaltener Stadtteil.« Was der Politiker meint: Hier die Armen, meist Hartz-IV-Empfänger, die immer noch 20,6 Prozent der Bevölkerung ausmachen (Hamburg insgesamt: 13 Prozent); dort die Gutverdiener, meist Singles, die teure Mietwohnungen oder eine der rund 300 Eigentumswohnungen beziehen.
Alteingesessene wie der Ex-Punker Mario Minelli, der seit 20 Jahren in St. Pauli lebt und dort den Plattenladen »Freiheit und Roosen« betreibt, reiben sich die Augen angesichts der Entwicklung, die Soziologen als »Gentrifizierung« bezeichnen. Minelli wohnt seit fünf Jahren mit Frau und Kind auf 96 Quadratmetern in der Seilerstraße und bezahlt inklusive Nebenkosten rund 1200 Euro. Er ist trotzdem zufrieden: »Für die hohe Miete bekommt man auch etwas. Das Haus wird gut instand- gehalten, der Zusammenhalt der Bewohner ist vorbildlich. Wir wohnen dort sehr gerne.« Nervig sei nur der »Sauftourismus«, der »unheimlich stark« zugenommen habe. »Das Schlimmste ist der Schlager-Move«, sagt Minelli, »dagegen waren unsere Punkerpartys in den 80er Jahren Kindergeburtstage.« Lärm, vollurinierte Eingänge und Rinnsale, die über die Bürgersteine mäanderten – »alles, was dumm und scheiße ist, findet mittlerweile hier statt«, attestiert der Künstler Rocko Schamoni.
Andy Grote formuliert seine Kritik behutsamer: »St. Pauli war immer ein Vergnügungsviertel, aber die Bespaßung hat bisher hinter den Türen stattgefunden. Jetzt wird es mit den ganzen Open-Air-Events langsam zu viel – St. Pauli ist doch kein Disneyland.« Das besondere Flair entstehe aus der Mischung von Wohnquartier und Vergnügungsmeile, sagt Grote: »Wenn das verloren geht, gibt es ein Problem.«
Einer, der für die Spaßkultur und Kommerzialisierung des Stadtteils steht wie kein anderer, ist der Theaterbesitzer und Präsident des FC St. Pauli, Corny Littmann. In einer von der Hamburger Tourismus GmbH herausgegebenen Broschüre lobpreist Littmann St. Pauli als »das Herz von Hamburg«, an dessen wilden Schlag sich der Besucher noch lange erinnern werde. Grote sieht die PR des Betreibers von »Schmidt’s Tivoli« und zahlreicher anderer Lokalitäten nüchtern: »Littmann hat sich nie für die Bewohner interessiert. Wenn er seine Ruhe haben will, kann er sich auf sein Landhaus zurückziehen, was den meisten Bewohnern verwehrt ist.«
Aktivisten wollen eine »Stadt für alle«
Den Künstler Christoph Schäfer regt auf, »dass neoliberale Politiker und Investoren hier weitermachen, als sei nicht geschehen«. Die Aktivitäten der Immobilienbranche bezeichnet der Bildhauer und Videokünstler als »business punk« – getreu dem Motto: »in der Krise nicht umdenken, sondern einfach weitermachen«. Schäfer ist einer der Sprecher der Initiative »Stadt für alle«. Er kämpft unter dem Schlachtruf »Recht auf Stadt« gegen die privatwirtschaftliche Aneignung urbaner Räume und für mehr Bürgerbeteiligung – manchmal mit unkonventionellen Mitteln. Im Februar trommelte die Initiative 100 Aktivisten zusammen, um eine Tagung von Vertretern der Stadt und der Immobilienwirtschaft vor dem Empire Riverside Hotel mit psychedelischen Klängen zu beschallen. Erklärtes Ziel: die »verrückten« Vertreter der Immobilienbranche einer »Karma-Reinigung« zu unterziehen und zum Umdenken zu bewegen.
»Wird nicht mit den vorhandenen bzw. erst noch zu schaffenden Instrumenten staatlicherseits gegengesteuert, wird St. Pauli den Wölfen und Immobilisten des freien Marktes überlassen«, sagt Joachim Bischoff, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der LINKEN im Rathaus. »Dann sehe ich schwarz für die Zukunft St. Paulis und in weiterer Zukunft auch für andere, innenstadtnah gelegene Stadtteile.« Die Sanierung maroder Gebäude sei nötig, aber überfällige Instandhaltungsmaßnahmen dürften nicht von Luxusmodernisierungen und Umwandlungen abgelöst werden.
Gernot Krainer, Betreiber des Musikerhotels »Kogge« in der Bernhard-Nocht-Straße, ist ein Opfer des Immobilienbooms: »Meinem Vermieter geht es nur darum, uns rauszukriegen. Erst hat er es mit einer 100-prozentigen Mieterhöhung versucht, dann mit einer Räumungsklage.« Die erste Runde hat Vermieter Uli Scheibe, der für eine Stellungsnahme nicht zu erreichen war, verloren. Jetzt muss das Oberlandesgericht entscheiden.
Im Fokus der Bewegung »Recht auf Stadt« befindet sich auch das Immobilienunternehmen Köhler & von Bargen, das in der Bernhard-Nocht-Straße mehrere Häuser für knapp fünf Millionen Euro erworben hat. Köhler & von Bargen will auf einem Dutzend Grundstücken Luxuswohnungen entstehen lassen, hat die Initiative NoBNQ recherchiert. »Die werden einen Riesenreibach machen«, sagt Krainer. Das Engagement gegen die Spekulation am Hafenrand bezeichnet der Gastronom als »Grundsatzgefecht«, das ein wichtiges Signal aussende: »Wir lassen uns nicht mehr alles gefallen.« Der Widerstand scheint mittlerweile den Investor zu beeindrucken – Andreas von Bargen erwägt jetzt den Verkauf der Häuser an die Initiative. Wer den Millionenbetrag in Aussicht gestellt hat, ist noch unklar.
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