Alltag an einen Ast hängen
Die Berliner und ihr Wald – Münchner Wissenschaftler fragten nach
»Berlin ohne seinen Wald ... wäre nicht Berlin!« In einer von den Berliner Forsten unterstützten Umfrage zeichnet der Lehrstuhl für Wald- und Umweltpolitik der TU München ein Stimmungsbild der Berliner Bevölkerung rund um den Berliner Wald.
Sieben Wissenschaftler aus München fielen in Berlin ein und befragten an den unmöglichsten Orten die Berliner über ihr Verhältnis zum Wald: Im Olympiastadion während eines Bundesligaspiels, in U-Bahnen, in Marzahn, im Grunewald, im Stadtpark Tiergarten, im Botanischen Garten, im Zoo, im Volkspark, aber auch die Orte Alexanderplatz, Köpenick, im Umkreis der Barbrücke und die Universität wurden nicht vergessen. Insgesamt wurden 340 Interviews geführt. Jeder Befragte repräsentiert 10 000 Berliner Stimmen.
Die von den Münchner Forschern gefürchtete »Berliner Schnauze«, die sich brüsk jedem Interviewversuch verweigert, wurde nicht angetroffen. Statt dessen wurde das Team oft von einer herzlichen Bereitschaft überrascht. »Selbstverständlich stehe ich für ein Interview zum Wald zur Verfügung, ja gerne, klingt interessant – wie lange wird es denn dauern? Was, das hängt von mir und meinen Gedanken ab? – klingt interessant, fangen wir an«. Was haben die Berliner geantwortet? Lassen Sie sich entführen in eine Welt voller Faszination für die grünen Flecken im Berliner Stadtplan, der grünsten Hauptstadt Europas.
65 Prozent aller spontanen Assoziationen sind positiv, 15 Prozent mit einer Erinnerung an einen Waldort verbunden. Nur vier Prozent verweigerten die Antwort oder ihnen fiel nichts ein. Wald ist keine Konsumverführung, sondern als eine der wenigen konsumfreien Zonen unter den Schutz der kollektiven Gedankenwelt gestellt. Hunger und Durst können käuflich am Rand und nicht in der Mitte gestillt werden. Die Faszination am Wald, die sich in den Antworten findet, bezieht sich auf der Wahrnehmung einer »Gegenwelt« zum normalen Alltag. »Stellen Sie sich vor, Sie können all Ihre Sorgen einfach am Tor zum Wald abgeben, den Alltag an einen Ast hängen und sich für ein paar Minuten oder auch Stunden einem Rausch der Sinne, der Entspannung oder einer Aktivität Ihrer Wahl hingeben. Ihren Geldbeutel können Sie getrost vergessen oder im Auto verstecken.« Nur vier von 100 Berlinern, also einer Gruppe, die nicht über die Fünf-Prozent-Hürde springt, fällt nichts ein.
Wir waren auf der Suche nach Sorgen und Ängsten, die die Berliner auf ihren Waldspaziergängen begleiten. Die Wildschweine liegen bei dieser Frage eindeutig an der Spitze. Der Fuchs mit seinem Bandwurm ist etwas abgeschlagen. Hunde und Radfahrer bilden eine Quelle für Ärgernis. Ab und zu warten hinter den Bäumen die dunklen Gestalten. Von der Gesellschaft Ausgestoßene oder auch solche, die dieser Gesellschaft den Rücken gekehrt haben. Ab und zu – hier und da ein Exhibitionist oder einer, der es eher auf den Geldbeutel abgesehen hat.
Alle Antworten zusammen genommen, beschreibt das Berliner Kollektiv einen Rausch der Sinne. Die gute, frische Luft, zwitschernde Vögel, die durch das Blätterdach fliegen, prägen das Umfeld eines beschriebenen Ruhepunktes der Entspannung im Grünen, in dem man sich selbst findet – umgeben von Wald, der als Synonym für Natur aufgefasst wird. In diesem Raum kann der Mensch Aktivitäten nachgehen oder auch einfach nur die Seele baumeln lassen. Spätestens jetzt muss die Frage nach dem schönsten Wald in Berlin gestellt werden.
Am schönsten ist der Wald in... – drei Viertel der Berliner nennen einen konkreten Ort und dabei zeigt sich ein gewisser Lokalpatriotismus. Spitzenreiter sind Grunewald, Tiergarten, Tegeler Wald und Müggelsee. Der Wald in der Nähe, der zu Fuß erreichbare Pantoffelwald ist der schönste, weil er eben nah und da ist. Die Bürger würden gerne ihren Interessen entgegenstehende Nutzungen einschränken, wenn der Wald als Ort der Ruhe und Erholung entfremdet wird, sei es als Mülldeponie, Grillplatz, Rennstrecke oder Hundeklo.
Die Aneignung, die Spuren der Zivilisation hinterlässt, ist mit der eigenen Wertschätzung nicht vereinbar. Andere Menschen, vor allem wenn es zu viele sind, und Hunde, vor allem frei laufende, sind ein anderes Ärgernis. Hunde – meist bezieht sich der Unmut auf den Besitzer – durchbrechen die Kontinuität der Erholung, reißen die Spaziergänger wie ein schriller Laut immer wieder aus dem grünen Schlaf. Ein Viertel der Befragten ärgert sich über nichts und genießt die Waldzeit in vollen Zügen.
Es resultiert ein Bild des Erholung suchenden Berliners, der seine Sinne im Wald öffnet und einem grünen Band der Sympathie folgt. Im Kopf ein Rausch der Sinne, im Bauch ein Gefühl von Entspannung und Erholung und in den Beinen das Gefühl der Bewegung.
Prof. Dr. Michael Suda ist Leiter des Lehrstuhls für Wald- und Umweltpolitik, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der TU München. Eva Krause ist wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl. Der Beitrag anlässlich des Tages des Waldes am 21. März beruht auf einem Vortrag im Rahmen der Festveranstaltung »100 Jahre Berliner Forsten« im Roten Rathaus von Berlin.
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