Ein Herz für Haiti
Der LINKE-Aktivist Franz Groll änderte nach dem Erdbeben seine Lebensplanung
Einmal im Jahr, zwei Wochen vor Ostern, veranstaltet »Pro Haiti« im katholischen Gemeindezentrum von Aidlingen im Landkreis Böblingen einen Haiti-Sonntag. Franz Groll und seine Frau Marie-Josée kennt hier jeder, denn die beiden haben bereits in den 90er Jahren als Entwicklungshelfer in Jérémie im äußersten Südwesten Haitis gearbeitet. Und »Pro Haiti« war und ist der Träger ihrer Projekte. Franz Groll hatte für die Diözese Jérémie ein »Centre Technique« aufgebaut, eine Berufsschule mit angeschlossenen Werkstätten. Seine Frau, eine aus Frankreich stammende Lehrerin, gründete zwei Montessori-Einrichtungen, einen Kindergarten sowie eine Schule samt Vorschule. Der Verein unterstützt die drei Schulen seitdem von Deutschland aus. So wurden jüngst Maschinen für eine Flaschnerwerkstatt nach Haiti geschickt. Und erst Ende letzten Jahres beherbergten die Grolls einen ehemaligen Lehrling für drei Monate in ihrer Wohnung in Gechingen, damit er sich zum Flaschner fortbilden kann.
Eigentlich wollte Franz Groll Mitte Januar wieder in Jérémie sein; er wollte im Centre Technique nach dem Rechten sehen und beim Aufbau der neuen Flaschnerwerkstatt helfen. Sein Flugzeug sollte am 12. Januar um 16.30 Uhr auf dem Flughafen in Port-au-Prince landen. 23 Minuten später bebte die Erde in der Hauptstadt. Wegen des Landesparteitags der LINKEN – Groll ist Sprecher des Kreisverbandes Calw und der ökologischen Plattform in Baden-Württemberg – hatte er den Flug dann doch nicht gebucht. Das hat ihm möglicherweise das Leben gerettet.
Franz Groll reiste dann Ende Februar über die benachbarte Dominikanische Republik nach Haiti. In Jérémie fand er tausende Flüchtlinge, die aus der zerstörten Hauptstadt Port-au-Prince gekommen waren, da die Stadt vom Erbeben nicht betroffen ist. »Diesen Leuten müssen wir eine Perspektive geben«, fordert er. Deshalb solle das Centre Technique ausgebaut werden. Geplant seien zusätzliche Ausbildungsgänge für Schreiner, Zimmerleute und Elektriker.
Doch darüber berichtet Groll beim Haiti-Sonntag nur beiläufig. Ausführlich geht er auf die Lage in Léogâne ein. Die Stadt, in der etwa 150 000 Menschen leben, liegt 35 Kilometer westlich der Hauptstadt Port-au-Prince auf der Nordseite der Halbinsel Tiburon. Bereits wenige Jahre nach der Landung von Columbus auf Hispaniola haben die Kolonialherren dort eine Kirche gebaut. Das Gebäude, dessen Grundmauern 500 Jahre alt sind, ist seit dem 12. Januar dieses Jahres nur noch ein Trümmerhaufen.
Léogâne wurde vom Erdbeben am 12. Januar besonders hart getroffen. Die Zahl der Todesopfer wird auf 10 000 geschätzt. »Etwa 25 000 Häuser müssen neu gebaut werden«, berichtet Franz Groll. Dafür will er in einer Technik-Schule Fachleute ausbilden. Das entsprechende Grundstück hat ihm bereits die katholische Kirche zur Verfügung gestellt.
Die ersten Haiti-Pläne der Grolls stammen aus den 80er Jahren. Damals sagten sie sich: »Wenn die fünf Kinder einmal erwachsen sind und uns nicht mehr brauchen, dann gehen wir.« Mit 50 Jahren hat der Hauptabteilungsleiter im Sindelfinger IBM-Werk gekündigt. »Das erste Vierteljahr in Jérémie war sehr, sehr hart«, erinnert sich seine Frau Marie-Josée Groll. Die beiden waren immer wieder verzweifelt, denn sie mussten feststellen, dass auch in der Kirche und unter den Pfarrern »christliche Nächstenliebe oft nicht gelebt wird.«
Am 15. Oktober 1994 schien sich dann alles zu ändern. Die US-amerikanische Armee vertrieb die Putschisten, die Präsident Jean-Bertrand Aristide 1991 gestürzt hatten, nachdem er 1990 in freien Wahlen mit überwältigender Mehrheit gewählt worden war. Bei seiner Rückkehr wurde dem ehemaligen Armenpriester im ganzen Land ein triumphaler Empfang bereitet. Auch in Jérémie. »Die Straßen waren gefegt und geschmückt mit Palmzweigen, Muscheln sowie Tischen und Stühlen«, erinnert sich Marie-Josée Groll. »So wollten die Leute Aristide symbolisch zeigen: Komm, nimm Platz, du bist bei uns eingeladen.« Die Menschen machten Musik und tanzten. Der Präsident war für viele Haitianer so etwas wie ein Messias.
Die Ernüchterung kam schnell, zumindest bei den Grolls. »Der Mann hatte keinen Plan für den Aufbau des Landes«, sagt Franz Groll. Auf Wunsch der US-Amerikaner, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank liberalisierte er die Wirtschaft, reduzierte die Zölle drastisch und führte eine Mehrwertsteuer ein. »Damit ist ein Großteil der Staatseinnahmen weggefallen«, sagt Groll und man merkt dem ehemaligen Entwicklungshelfer immer noch seine Empörung an. »Denn in einem armen Land wie Haiti, in dem etwa 80 Prozent des Handels über kleine Märkte und Straßenverkauf geht, kann man keine Mehrwertsteuer durchsetzen.«
Und dann sei Haiti mit gefrorenem Hühnerfleisch überschwemmt worden, das meist aus Miami kam und viel billiger war als die haitianischen Hähnchen. Subventionierter Reis und Mais aus den USA und andere Billig-Waren verdrängten weitere lokale Produkte, sodass immer mehr verarmte Familien vom Land in die Hauptstadt flüchteten. »Nach dem Beben sind viele zurückgegangen«, berichtet Franz Groll beim Haiti-Sonntag im schwäbischen Aidlingen. Deshalb sollten die Hilfsorganisationen auch in diesen Gebieten aktiv werden.
www.Pro-Haiti.de; Spenden für Pro Haiti: Vereinigte Volksbank AG; BLZ 603 900 00, KTN 44 99 000
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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