Leben ohne Geheimnis?
Heute wäre der Regisseur Adolf Dresen (1935–2001) 75 geworden
Adolf Dresen im Gespräch »Zur Person« im August 2000, bei Günter Gaus. Wie der Strubblige auf die Stuhllehnen schlug, wie er aufgedreht lachte. Wie er fast schüchtern, wie ein Ertappter, zugab, die Giehse immer besser gefunden zu haben als die Weigel. Mit welcher Begeisterung er von der »Kapital«-Lektüre erzählte und von einstiger Studenten-Lust, allein schon mit genauer Kenntnis von Marx die meisten populärdrögen Marxismus-Lehrer an der Leipziger Universität zu überlisten. Und: wie selbstverständlich, gelöst, heiter der Hans-Mayer-Schüler Dresen in diesem Interview das Scheitern als existenzielle Dauererfahrung bezeichnete. Als einzig bleibende Möglichkeit, wenn man sich der Frage »Wer bist du? Welcher Sinn wäre festzumachen?« zu nähern versucht. Die Gottes-Frage, die Kommunismus-Frage. Wenn die sicher geglaubten Antworten verloren gehen, dann erst ist der Mensch auf gutem Wege.
Aus einem Dorf, »geistig vaterlos« aufgewachsen, war der Ingenieurssohn aus Eggesin ins neue Deutschland DDR gekommen, in einen Staat, der seinen Leuten nicht ersparte, den vergangenen Krieg als das zu begreifen, was er war: ein Verbrechen. Darin sah Dresen eine große, bleibende Leistung der DDR. Auch wenn aus Verlierern bald selber »Sieger der Geschichte wurden, die eine Macht festigten, welche ohne wirklich tiefes Volksvertrauen auszukommen glaubte«. Und den Stalinismus, meint er, könne man nicht vom Marxismus aus kritisieren, der sei dessen Konsequenz.
1968 inszenierten er und Wolfgang Heinz »Faust I« am Deutschen Theater, mit Fred Düren in der Titelrolle und Dieter Franke als Mephisto. Ein verzweifelter, desillusionierter, fahrig-unheldischer Faust widerspiegelte das Geistes- und Gefühlsniveau einer Ordnung, die Ulbricht als Ort eines sozialistisch befeuerten Faust III feiern wollte; Goethe als Urvater neuester Parteitagsbeschlüsse.
Die Aufführung wurde ein Skandal. Das Staatstheater DT hatte gegen das Staatstheater SED rebelliert. Der Anfang von einem Ende. 1975 schreibt Dresen an seine Genossen einen Brief, die DDR betreffend: »Saturierung tritt an die Stelle von Emanzipation, Reichtum an die Stelle des von Marx gewollten Reichs der Freiheit, Fettlebe anstelle wahrer Lebendigkeit ... Ich persönlich bedanke mich für das Paradies der Autos, Kühltruhen und Farbfernseher, ich wäre stolz auf eine Armut, die sich mit menschlicher Würde deckt.«
Und er mutmaßt, an dieser Stelle seines Briefes, bei den Adressaten Gelächter. »Lachen Sie. Ich gestehe Ihnen, dass ich in den Finten, Taktiken, auf die Sie sicher stolz sind, das nicht mehr finden kann, um dessentwillen ich Genosse sein wollte.« Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik – für Dresen ein Hecheln am Hintern westlicher Schaufensterkultur. In nacheiferndem Liberalismus sah er eine wesentliche Ursache für die Wertezerstörung im deutschen Osten.
Der Kommunist, der zugleich Bürger gewesen ist: Wunderbares »Sie« im zitierten Brief, solch eine Anrede inmitten der Genossen – das war Kultur, gesetzt gegen militante Verkumpelung, die jede Differenzierung zwischen Menschen ausschaltet, letztlich auch den Respekt. Dresen bat mit diesem Schreiben um seine »Entlassung« aus der SED, ein Jahr später wurde er im Zusammenhang mit der Biermann-Ausbürgerung dann ausgeschlossen (mit seiner eigenen Stimme). Ausschluss, nicht Entlassung. Das Handlungsgebot gehörte der Partei, nicht dem Einzelnen. Aber noch im Gram ist Dresen, der 1977 die DDR verließ, stets groß, hassfrei geblieben. »Für eine Opposition von innen gab es einigen Spielraum. Ich habe sogar erlebt, dass Leute der Bezirksleitung, sogar des ZK uns zwar offen kritisierten, aber heimlich halfen.«
Hineingestellt in eine staatliche Teilung, gehörte er zu den letzten Träumern, die eine gemeinsame deutsche Nationalkultur stets für wichtiger hielten als eine gemeinsame deutsche Nation. Mit solcher Hoffnung wird man schnell heimatlos, er war es in Ostberlin wie in Frankfurt am Main. Auch Wiens Burg machte ihn nicht glücklicher.
Dresen entkam im Westen dem Osten, aber nicht Deutschland, wo »dem Materialismus der Massen stets die Verstiegenheit der Intelligenz« entsprach. In Frankfurt am Main hatte 1982 mit ihm erstmalig ein DDR-Regisseur die Leitung eines bundesrepublikanischen Theaters übernommen. Ein resignierter Abschied nach drei Jahren – und eine Prophetie, die in unsere Tage greift: »Das Ensemble verliert an Gewicht. Ein Management kann das Theater effektiver leiten, es verliert mit seiner wachsenden Effizienz jedoch seinen Sinn.«
Essayist Friedrich Dieckmann schrieb, Dresen sei damals in den Westen gegangen, »weil der Osten keine Geheimnisse mehr für ihn hatte. Der Westen seinesteils brauchte keine, das machte des Einwanderers wachsende Verwirrung aus.« Das habe Dresen zwar im Voraus gewusst, »aber es ist das eine, keine Illusionen zu haben, und ein anderes, das bestätigt zu finden«. Aus der besorgten Ostfrage, wieviel Freiheit die Kunst brauche, sei für Dresen die besorgte Westfrage geworden, wieviel Freiheit die Kunst vertrage.
Einer, der Theater als gemeinsame Daseinsform gegen Markt und Geschäftsgetriebe sah, der an die moralische Anstalt glaubte – er hatte gute Gründe, überall einsam zu werden. Sein Antrieb für die Kunstausübung war das Vertrauen in einen gemeinsamen Sinn, Theater zu betreiben, und immer suchte er diesen Sinn in der Welt, nicht im Theater.
Am DT hatte man seinen Namen – seit »Juno und der Pfau«, diesem klassisch gewordenen O’Casey, seit dem »Kohlhaas« mit Kurt Böwe, seit dem »Zerbrochnen Krug« mit Dieter Franke, dem »Prinzen von Homburg« mit Alexander Lang – wie etwas Heiliges, Unantastbares ausgesprochen. Am Ende war der Regisseur irgendwie hauptberuflich ein poetisierender Theoretiker. Seine Unternehmung blieb: Arbeit daran, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.
Gedichteschreiber, Erzähler. Im Künstler der Dramaturg, im Grübler der Gaukler. Ein Turnschuhmensch, ein Radfahrer, ein Sterngucker. Wo andere auf Argumente beharrten, war er verliebt in Gedanken. Er konnte explodieren, aber da explodierte Buddha. Nach den Schauspiel-Jahren war er, der 2001 starb, zudem Opernregisseur geworden. Weil Musik immer die Rettung ist. Vor jedem und vor allem, und sie ist nie Flucht, sondern auf ewig schönste aller Ankünfte ...
Der Pessimismus, der sagt, es könne gar nichts geändert werden, ist genau so unangenehm wie der Optimismus, der behauptet, alles würde gut. Verschwommenes am fernsten Horizont interessiert mich nicht. Mich interessiert die Gegenwart, nicht der Aufschub. Der Sommer hat sieben Wochen – wenn bis dahin die Früchte nicht reifen, gibt es keine. Wenn nicht jetzt, wann dann?
ADOLF DRESEN
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