Arkadien – sehr weit weg

Vom Verlust der Idylle und wie es wirklich aussieht bei den Osterlämmern

  • Michael Sagorny
  • Lesedauer: 6 Min.
Brigitte Müller mit verlorenem Lamm
Brigitte Müller mit verlorenem Lamm

Ein schepperndes Blöken liegt in der Luft. Der geräumige Stall beherbergt 250 Schafe und 200 Lämmer. Jetzt, vor Ostern kommen besonders viele Lämmer zur Welt. Eins von ihnen liegt verloren im Stroh und ruft lauter als die anderen nach der Mutter. Es ist erst einige Stunden alt, sein Fell ist von der Geburt noch ganz hart und verklebt. »Für Neugeborene und ihre Mutterschafe sind kleine Abteile mit Holzgattern abgetrennt, damit sie sich aneinander gewöhnen. Dieses Lamm ist durchs Gatter gekrochen. Es liegt in der falschen Box«, erklärt Brigitte Müller, Schäferin in der vierten Generation.

Diese Szenen gehören momentan schon fast zum Alltag in der Schafzucht in Görlsdorf nahe dem brandenburgischen Luckau. »Meistens finde ich die richtige Mutter, aber das klappt nicht immer. Dann ziehe ich die Lämmer mit der Flasche groß.«

Die Zeit der Wolle: vorbei

»Die Lämmer kommen nicht nur zu Ostern«, fährt die Schäferin fort. »Es liegt bei uns, wann wir den Bock zu den Schafen lassen. Mit frischen Kälbern kann man ja nicht wandern.«

Die traditionellen Osterlämmer sind zwischen September und Dezember geboren. Dass sie gerade zu Ostern geschlachtet werden, hat Bezüge zum Alten und besonders zum Neuen Testament. In ihm wird Christus als das Lamm Gottes bezeichnet. Das Osterfest steht für die Auferstehung Jesus.

Das Fleisch bringt den eigentlichen Ertrag im Schäfergeschäft. »Für Wolle bekommt man heute in der Lausitz gerade mal 35 Cent das Kilo. Geschoren werden müssen die Schafe trotzdem, sonst wird ihnen zu heiß unterm Pelz. Da zahlen wir Schäfer richtig drauf.«

Ein Mythos verschwindet

Brigitte Müller macht sich wieder auf die Suche nach der Mutter des blökenden Lammes. Den Schäfern im 21. Jahrhundert geht es schlecht. Das war nicht immer so. Zumindest nicht, was seine kulturelle Stellung betrifft. Die Schäferdichtung begleitet die Entstehung der westlichen Kultur seit frühester Zeit. 250 vor Christus dichtet der Grieche Theokrit aus Hirtengesängen 30 Idyllen. In ihnen verklärt er das harte Leben der Hirten in naturnahes, sinnliches und tiefes Empfinden. Bei den Römern führt Vergil diese Tradition kurz vor dem Jahre Null unserer Zeitrechnung fort. Er ist es, der darin das Traumland Arkadien findet. Arkadien, eigentlich eine schwer zugängliche Provinz im antiken Griechenland, wird umgedeutet zum glücklichen Hirtenland ohne Arbeit, ohne Leiden und ohne Alter. Vergils Arkadien entwickelt sich zur Traumwiese der europäischen Sehnsüchte.

Ein Leben mit Schafen

Die Realität der Schäfer im ausgehenden vergangenen Jahrtausend sieht nüchterner aus. Und doch sind es noch bessere Zustände als heute. Brigt den Beruf der Schäferin von 1966 bis 1969 bei ihrem Vater gelernt, in der DDR. Hier gab es jeweils einen Zuständigen für die Bereiche Tierpflege, Betriebsführung, Futterbeschaffung, Medizin. Inzwischen macht die Schäferin fast alles selbst. »Natürlich begleitet ein Tierarzt meine Arbeit. Aber die Geburtshilfe übernehme ich grundsätzlich selbst«, erzählt die 58-Jährige. Ein harter Job, denn die Geburten richten sich nicht nach der Uhr. »Wir sind seit vier Generationen Schäfer, aber nach mir ist Schluss. Es lohnt sich nicht mehr.«

Ein Grund für den Niedergang des Traditionsberufes: Die Weideflächen fehlen. Zu DDR Zeiten gehörten noch die umliegenden Weiden zur Schäferei. Nach der Wende sind sie an Alteigentümer übertragen worden. Jetzt muss die Schäferin mit ihren Tieren auf Wanderschaft gehen, die eigene 15 Hektar große Wiese reicht für die Schafe nicht aus. »Es wird immer schwieriger, mit der Herde herumzuziehen. Und die geeigneten Flächen werden immer weniger.« Der Schäferin fällt es sichtlich schwer, die Familientradition aufzugeben.

Arkadien sieht anders aus

Zurück zur Hirtengeschichte: Nach der Blüte im Römischen Reich verschwindet das Hirtenthema aus der Kunst. Doch anders als bei der realen Schäferei der Gegenwart startet die Idylle Arkadiens noch einmal voll durch.

In der Renaissance werden die griechischen Geschichten wieder entdeckt. Arkadien ist wieder voll da. Nun allerdings als Projektionsfläche für Träume, Visionen und – für Gesellschaftskritik. Dante, Boccaccio und Petrarca wetteifern darin, die Eleganz des Stils ihrer literarischen Leithammel Theokrit und Vergil zu übertrumpfen. In Arkadien können die Poeten zudem alles kritisch thematisieren: Fragen zu Theologie, Moral, Kriegsangst, Liebesleid, Verlauf von Fürstenkarrieren oder Affären von Prominenten. Im 14. Jahrhundert kann diese Offenheit schnell den Kopf kosten, deswegen erfinden die Dichter neue Ausdrucksformen und würzen ihre harmlos scheinenden Schäfergeschichten mit verdeckten Anspielungen.

Später entstehen der Schäferroman, das Schäferdrama, das Schäferspiel und die Schäferoper. Das Thema beherrscht Bühnen und Bücher in Italien, Spanien, England und Frankreich. Im Barock des 17. und 18. Jahrhunderts wird das Schäfermotiv bestimmend in der Malerei. An den europäischen Höfen setzt eine wahre Schäfermode ein. In der manirierten Welt der Herrschenden wird in diesem Treiben die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen gestillt. Doch dieses Zurück-zur-Natur findet natürlich in gepflegten Landhäusern bei erlesenen Speisen statt.

Die Dichterfürsten Goethe und Schiller sind ebenfalls tief beeindruckt von Form und Kraft der Schäferpoesie. Als literarische Gattung verabschiedet sie sich dann mit der fortschreitenden Industrialisierung.

Schlechte Aussichten

Brigitte Müller hat ganz reale, arkadienferne Sorgen. »Zu den Problemen mit den Futterplätzen kommen immer neue bürokratische Bestimmungen aus Brüssel und von der Bundes- und Landesregierung. Die weitgehend artgerechte Haltung der Schafe, wie wir sie betreiben, hat so keine Zukunft. Wenn ich mit meinen Tieren draußen bin, von April bis Dezember, habe ich alle Hände voll zu tun. Abends zäune ich sie ein, stelle das Gatter unter Strom und verbringe die Nacht zu Hause. Dort muss ich den ganzen Schreibkram erledigen. Doch auch während der Austriebszeit melden sich Kontrolleure an: Sie überprüfen die Ohrmarken der Tiere, ihren Gesundheitszustand, das Futter und die Weiden. Obendrein wird nachts bei der Herde immer öfter Material geklaut, und es werden Tiere geschlachtet.«

Der Wolf kehrt zurück

Neben den Bürokraten und Dieben taucht in Brandenburg ein neuer Erzfeind der Schafe verstärkt auf: der Wolf. »Letztes Jahr hatten wir echten Alarm. Da ist erstmals seit langem ein Wolf nahe Luckau gezogen. Meine Herde hat er zum Glück verschont. Aber so etwas habe ich bislang noch nicht erlebt.« Gegen Ende des Gesprächs findet Schäferin Brigitte Müller doch noch die Mutter des verlorenen Lammes.

Das Osterlamm wird es weiter auf den Tellern der Festtafel geben, aber das altgewohnte Bild der Schäfer und Schäferinnen, einem der ältesten Berufe der Menschheit, wird in naher Zukunft verschwinden. Mit ihnen verblasst Arkadien, jene Sehnsuchtslandschaft, die die westliche Kulturbildung als ein wesentliches Element seit der Wiege begleitet hat. Hier wurde noch geträumt, kritisiert, formal experimentiert, und hier wurden visionäre Idyllen geschaffen. Bürokraten, Diebe und der Wolf haben übernommen.

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