Zartbitterer Abschiedsschmerz

Neue Ausstellung in der Temporären Kunsthalle: »squatting. erinnern, vergessen, besetzen«

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
»Squatting« wird hier sehr allgemein als »Raum-Einnehmen« interpretiert.
»Squatting« wird hier sehr allgemein als »Raum-Einnehmen« interpretiert.

Wenn etwas zu verschwinden droht, kommt gleich die Wehmut herbeigaloppiert. Diese Gesetzmäßigkeit ist in Berlin auch mit dem Schlossplatz verbunden. Nach Stadtschloss und Palast der Republik wirkt sie nun ebenso bei der Temporären Kunsthalle. Als Geschäftsführer Benjamin Anders am Donnerstag anlässlich der Eröffnung von »squatting. erinnern, vergessen, besetzen« verkündete, dass dies die vorletzte Ausstellung sein werde und Ende August definitiv Schluss mit der Bespielung sei, häuften sich die Fragen danach, ob die Halle nicht doch an einem anderen Ort wieder errichtet und die Arbeit des Kunstkubus in irgendeiner Form weitergeführt werden könne. Statt der Häme, die wegen durchaus dilettantischer Streitereien und manch merkwürdiger Kuratierung über das Projekt seit seinem Bestehen heruntergeregnet war, machte sich zartbitterer Abschiedsschmerz breit.

Noch aber steht sie. Unschuldig weiß sogar. Denn der Konzeptkünstler Carsten Nicolai ließ die gigantische Palast-Attrappe der Fotografin Bettina Pousttchi von der Außenhaut entfernen. Er wird seinerseits in einigen Wochen das Publikum zum Bestücken der Hülle mit von ihm vorgefertigten Aufklebern auffordern. Dieses »AutoR« genannte Projekt stellt eine Reminiszenz an selbstorganisierende Prozesse dar. Bis auf die Bereitstellung der ca. 100 000 Aufkleber will Nicolai sich aus dem Gestaltungsprozess heraushalten und der Masse Mensch den je eigenen Ausdruckswillen gestatten.

Im Inneren der Halle hat sich das Kuratoren-Duo Tilo Schulz und Jörg van den Berg dieser privilegierten Tätigkeit im Rahmen von »squatting. erinnern, vergessen, besetzen« bereits hingegeben. Über die Themensetzung und vor allem deren nur ungefähre Umsetzung mag man streiten. Squatting, also besetzen, fassen Schulz und van den Berg nicht in dem erprobt politischen Sinn des Hausbesetzens auf, sondern sehr allgemein als »Raum-Einnehmen«.

Der geschichtliche Ereignisstrom, der auch diesen Ort durchtost hat, wird keineswegs direkt in die Ausstellung gelenkt. »Squat kommt von ›to squat‹, sich hinhocken. Man begibt sich an einen Ort, nimmt einen Platz ein und schaut«, erläutert Tilo Schulz. Man muss dem zurückhaltenden Künstler aus Leipzig und dem von ihm als Co-Kurator engagierten umtriebigen van den Berg immerhin zugestehen, dass ihnen mit Hilfe von 22 Werken meist in Berlin tätiger Künstler tatsächlich eine Szenerie gelungen ist, in die man sich gern hineinhockt und die Blicke schweifen lässt.

Da ist zum Beispiel der massige, aus alternden Rigipsblöcken zusammengesetzte Kubus von Franka Hörnschemeyer gleich am Eingang. Sehr abweisend wirkt das gewaltige Objekt – und spinnt doch auf ganz eigene Art das Motiv der Brandmauern weiter, die der Fotograf Michael Schmidt in den 80er Jahren auf Schwarz-Weiß-Film bannte. Konnten die räudigen steinernen Mauern noch als Zeugen längerfristiger historischer Prozesse gelten, so ist das temporäre Baumaterial durch zwei Jahrzehnte Lagerung und Benutzung auch ein wenig aufgeladen und gibt so einen Hinweis auf die Historisierung selbst des nur Vorläufigen. Die Augen wandern weiter zu einer Bergwelt-Installation von Simon Wachsmuth aus Biedermeiermöbeln, einem Bericht über die Chimborazo-Ersteigung Alexander von Humboldts und einer Gruppe von Wanderstöcken, deren filigrane Struktur die des Holzgerüstes aufgreift, das Heike Kati Barath auf eine Leinwand gesetzt hat.

Von Wachsmuth stammen zwei Absperrgitter, die den Blick auf großformatige Texttafeln verstellen. Die Gitter könnten durch Ausschreitungen verbogen sein, auf die Texttafeln hat Thomas Locher Auszüge der UN-Konvention gegen Folter aufgebracht. Mit einem roten Kreuz markiert daneben Olaf Nicolai einen Ort, an dem Asyl gewährt werden soll. Hier berührt der kunstvoll komponierte Schauapparat erstmals die Dimension des Politischen.

Über weite Strecken inszeniert die Ausstellung freilich die Leere. Sie durchweht Annika Erikssons Video »Maximum Happiness« über einen aufgegebenen Sozialwohnkomplex in Sheffield und Selja Kameric' Aufnahmen der verlassenen Hafenstadt Folkestone. Die Leere ist in Sven Johnes Geschichten über einsame Menschen präsent und krallt sich an die zerfetzten Mumien von Antje Majewski fest. Weil diese Leere der Zustand ist, der dem (Haus-)Besetzen vorausgeht, erfüllt die Ausstellung auf einem charmanten Umweg schließlich sogar die im Titel geweckten Erwartungen.

Bis 24.5., tägl 11-18, Do. bis 21 Uhr, Temporäre Kunsthalle

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