Verliebt, verlobt, verheiratet – in Neukölln
Zur Karl-Marx-Straße locken zahlreiche Läden für Hochzeitsmode / Abendkleider zum Kampfpreis
(dpa/ND). Neukölln ist nicht nur »Brennpunkt«, sondern auch Szenekiez mit Galerien und Bars, in denen neuerdings viel Englisch zu hören ist. Entlang der Karl-Marx-Straße sieht das Viertel aber noch rau aus. Männer huschen in Sexshops und Pfandleihhäuser.
Doch hier hat sich ein Geschäftsfeld aufgetan, das selbst die meisten Berliner nicht kennen: Hochzeitsmode. Migranten reisen angeblich sogar aus Skandinavien an, um in Neukölln einzukaufen. Ein Einkaufsführer hat im Kiez 20 Läden rund ums Heiraten gezählt. Abendkleider gibt es zum Kampfpreis von 50 Euro, Hochzeitskleider ab 500 Euro und mehr. Geführt werden die Läden von Frauen, wie auch die Dessousläden. In arabischen Ländern ist es jedoch umgekehrt. Da hantieren vorwiegend Männer mit Unterwäsche, da der Beruf des Verkäufers traditionell eine Männerdomäne ist.
Anders als bei deutschen Paaren wird eher nicht im Sommer geheiratet, weil dann viele Einwanderer ihre Familien in den Herkunftsländern besuchen. Die Saison läuft jetzt. »Diesen Monat haben wir sehr viele Hochzeiten«, erzählt Fazilet Karatas von der Boutique »Sissy«. Deutsche Frauen mögen es schlichter bei den Kleidern, bei den Türkinnen und Araberinnen gilt als Faustregel: Je aufwendiger, je mehr es glitzert, desto besser. Perlen sind nicht mehr so beliebt, weil sie nach einer Redensart an Tränen erinnern. Ein gefragtes Modell bei »Sissy« ist ein weißes Korsagenkleid aus Organza mit applizierter Spitze.
Bunter geht es bei der Verlobung zu. Rot ist in der Türkei, grün bei Arabern die Farbe für die Henna-Nacht, den Abschied von den Eltern vor der Hochzeit. Zur Anprobe des Kleides kommt manchmal die Familie mit, auch der Bräutigam. Da brauchen die Neuköllner Verkäuferinnen starke Nerven. Eine libanesische Mutter erzählt in einem der Geschäfte, wie sich die Zeiten geändert hätten: Früher wurden die Mädchen oft gegen den Willen der Eltern verheiratet. Heute sei es umgekehrt, die Kinder setzten ihren Kopf durch.
»Die Frauen, die heiraten, sind überglücklich«, sagt Verkäuferin Dunia Elzein in der Boutique »La Majeste«. Ein Ort für Cinderella-Träume: Im Prospekt sehen die Frauen aus wie Prinzessinnen, die auf weißen Taftwolken schweben. Ein paar Schritte weiter führt Svetla Dimitrowa in ihrem Atelier die Fotos von Kundinnen vor: eine hochschwangere Griechin in Weiß, eine Araberin mit Kopftuch, eine im schulterfreien Kleid, Schnappschüsse von einer Modenschau, die auch zeigen will, dass Neukölln mehr zu bieten hat als Schlagzeilen um die Rütli-Schule.
Reich wird man auf der Karl- Marx-Straße allerdings nicht, lässt die Bulgarin durchblicken. Aber sie ist mit ihrem Geschäft zufrieden. Die Feste sind oft eine große Sache. Die Schneiderin amüsiert sich über eine Kundin, die bei einem Verlobungskleid sagte: »Ach, für 300 Leute reicht es.«
Um die 700 Gäste können zu einer »Dügün« kommen, der türkischen Hochzeitsfeier. Paare müssen lange sparen, wenn der Vater des Bräutigams das Geld dafür nicht aufbringen kann, wie es der Tradition entspricht. Üblicherweise wird das Paar mit Goldschmuck oder Geld beschenkt. Nicht nur Berlin wartet mit einer Brautindustrie auf. Viele Paare reisen vor der Hochzeit zum Shoppen nach Duisburg-Marxloh. Der Kölner Sender Dügün-TV bietet Live-Übertragungen an, damit die Verwandtschaft außerhalb Deutschlands wenigstens via Satellit dabei sein kann. »Evet – Ja, ich will« hieß eine Ausstellung, die kürzlich in Mannheim und Dortmund zu sehen war und sich der deutschen und der türkischen Hochzeitsmode seit 1800 widmete.
Im türkischen Branchenbuch für Berlin sind seitenweise Festsäle gelistet. Ein Unternehmen hat sich sogar auf die Luftballons spezialisiert, die um die Paare herum dekoriert werden. Auch Bauchtänzerinnen kann man mieten. Besonders an Wochenenden ist das Hupen der Autokorsos zu hören. So klingt in den Ohren der Berliner eine arabische oder türkische Hochzeit.
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