Die Inszenierung eines Kunstwerks
Das Oeuvre von Georges Seurat in der Schirn Kunsthalle Frankfurt
Sein Leben war kurz und wenig ereignisreich. Als Seurat 31-jährig starb, hatte er bisher gerade zwei Bilder verkaufen können. Nach der sofort erfolgten Katalogisierung seiner künstlerischen Hinterlassenschaft teilte der Kunstkritiker Felix Fénélon in seinem Nachruf lapidar das Ergebnis mit: »Das Verzeichnis seiner Werke enthält 170 Tafeln in Zigarrenkistengröße, 420 Zeichnungen, 6 Skizzenbücher und ungefähr 60 Gemälde, darunter 5 großen Formats, die wahre Meisterwerke sind«.
Diese fünf bis sechs großformatigen Figurendarstellungen, monumentale »Ideal-Gemälde« mit Genrethemen des Alltags, haben den Ruhm George Seurats begründet. Aber nur eines dieser Hauptwerke, »Der Zirkus« (1890-91, Musée d’Orsay Paris) befindet sich heute in Frankreich, die anderen – »Die Badenden« (1883-84), »Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte« (1884-86), »Modelle« (1887), »Zirkusparade« (1887-88) und »Le Chahut« (1889-90) – sind in alle Winde zerstreut. Wir kennen sie eigentlich nur in verkleinerten Reproduktionen, die die erstaunlich vielfältige Technik des Originals in keiner Weise wiedergeben.
Auch die vom Kunsthaus Zürich organisierte und jetzt in Frankfurt am Main gezeigte Überblicksausstellung muss das Handicap in Kauf nehmen, dass nur eines dieser Hauptwerke, »Der Zirkus«, die Reise antreten konnte. Die Oberfläche der großen Gemälde ist zu fragil, so dass sie an ihrem jeweiligen Standort verbleiben müssen. Aber hätten sich sonst die Besucher um diese so spektakulären Meisterwerke gedrängt, können sie nun mit Muße und Genuss etwa 60 Gemälde und Gemäldevarianten, Ölstudien und Zeichnungen betrachten, die Seurat mit methodischem Eifer und handwerklicher Präzision – und vielfach zur Vorbereitung seiner großformatigen Hauptwerke – angefertigt hat.
Ein zentraler Aspekt in seinem Werk wird ins Visier genommen, das Verhältnis von Figur und Raum. Aus verschiedenen Perspektiven setzte sich der Künstler mit den Figuren auseinander, variierte sie, hielt sie in unterschiedlichen Ausschnitten fest, montierte sie schließlich aus Vorstudien in seine Gemälde. Selbst dort, wo die menschliche Figur keine Rolle spielt, in den Naturstudien und Landschaften, übernehmen Bäume, Hügel oder Schiffsmasten deren Funktion.
Schon früh faszinierte ihn das Körperhafte im unruhigen Spiel von Licht und Dunkelheit. Seinen künstlerischen Durchbruch aber erreichte er mit dem Gemälde »Die Badenden«, in dem sich schon der Einfluss der Impressionisten zeigte. Es war mit breiten, flach aufgetragenen, ineinander gewischten Pinselstrichen gemalt, um dem Auge die Möglichkeit zu geben, sie miteinander zu vermischen. Seurat entwickelte daraus eine wissenschaftliche Methode, um visuelle Phänomene wiederzugeben. Er machte zuerst ganz in impressionistischer Art Farbskizzen, dann kombinierte er sie und arbeitete die Details nach seiner Formel mühsam im Atelier aus. Das Resultat war eine Komposition von fast klassischer Ordnung und eine Oberfläche von fast mechanischer Regelmäßigkeit.
In »La Grande Jatte«, seinem wohl berühmtesten, zwei mal drei Meter großen Werk, verkehrte Seurat den Impressionismus schon in sein Gegenteil. Die Vielfalt und Zufälligkeiten der Impressionisten waren hier in eine formale, klassische Struktur geronnen, die Welt des Gewöhnlichen wurde zu einer universalen Geometrie geordneter Vertikalen und Horizontalen verdichtet. Die Figuren sind erstarrt, wie auf eine Fotoplatte gebannt. Das Monumentalbild ist eine Synthese, die ebenso glänzende wie pedantisch genaue Inszenierung eines Kunstwerkes.
Denn wie für »Die Badenden« entwarf Seurat zunächst in Zeichnungen das »Bühnenbild«, die menschenleere Landschaft, und in Holzbrettchen, auf denen er mit Ölfarben skizzierte – sie sind in der Ausstellung wunderbar präsentiert –, studierte er ihre Farben- und Lichtzustände. Dann skizzierte er im Freien unermüdlich Spaziergänger, Angler, spielende Kinder, im Grase Ruhende, indem er sie bereits so stark wie möglich vereinfachte. Erst in den letzten Studien erscheint das große Paar, das am Ende die rechte Bildseite beherrscht. Wie zu einer »Stellprobe« setzte er dann im Atelier die Figuren zu kleinen Gruppen zusammen und ordnete sie in die Bühnenlandschaft ein.
Um das Bild, eine Demonstration der neuen wissenschaftlichen Malmethode, fertigzustellen, brauchte er zwei Jahre. Er rief einen Skandal hervor, man sprach höhnisch von »Fliegendreck- und Punktmanier«. Denn die Komposition ist ganz aus Farbpunkten zusammengesetzt, aus vorsichtig gesetzten Farbflecken, die im Gras kreuzweise übereinandergelegt sind, horizontal im Wasser und den Konturen folgend in den Figuren. In dem Kritiker Fénélon fanden Seurat und seine Methode jedoch einen Verbündeten, er prägte auch die von der Kunstgeschichte akzeptierte Stilbezeichnung Neoimpressionismus, andere sprachen von Divisionismus oder Pointillismus, Seurat selbst bevorzugte den Ausdruck »Chromoluminarismus«.
Mit seiner bis zuletzt angewandten divisionistischen Methode und pointillistischen Technik konnte Seurat zwar alle von ihm beabsichtigten Farbwechsel und -werte malen; aber es war kein dynamisches System und eher für ruhige, hieratische als bewegte oder dramatische Motive geeignet. Am besten konnte er damit Landschaften malen, in der Umgebung von Paris wie vor allem an der Kanalküste mit leeren Promenaden, flachen Seehorizonten und lichtdurchfluteter Ruhe. Gerade ihre beängstigende Stille macht die atemstockende Faszinität der Seuratschen Bildwelt aus. Und dennoch: Nicht die »wissenschaftliche« Methode hat Seurat wohl zu dieser lichten, zarten, bei aller Heiterkeit immer etwas melancholischen Farbstimmung geführt, sondern seine künstlerische Meisterschaft.
Georges Seurat – Figur im Raum. Schirn Kunsthalle Frankfurt a. M., Di, Fr-So 10-19, Mi und Do 10-22 Uhr, bis 9. Mai. Katalog.
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