Im Chaos der Wendezeit

Vor 20 Jahren stoppte Vietnam die Entsendung von Vertragsarbeitern – offiziell aus humanitären Gründen

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 6 Min.
Mit der Währungsunion 1990 brach die Wirtschaft der DDR zusammen, viele vietnamesische Vertragsarbeiter verloren noch vor den deutschen Kollegen ihre Jobs. Trotzdem blieb rund ein Viertel von ihnen in Deutschland.

Heute weiß niemand mehr genau, ob es der Morgen des 10. oder 11. November 1989 war: Ein nordkoreanischer Student klopfte in Berlin an das Zimmer seiner vietnamesischen Nachbarn. Ihm war der Kaffee ausgegangen. Es war Frühstückszeit, und er war in Hausschuhen und Trainingshose über den Gang des Studentenwohnheims geschlurft. Die Asiaten kamen ins Plaudern und frühstückten gemeinsam. Für den Nordkoreaner eine Fügung des Schicksals: Zur gleichen Zeit suchte die nordkoreanische Botschaft gemeinsam mit dem MfS in seinem Zimmer nach ihm. Weil die Mauer gefallen war, rief die Regierung in Pjöngjang ihre Studenten an diesem Morgen zurück. Alle wurden ausgeflogen. Den einen, der bei den Vietnamesen frühstückte, fand man nicht.

»Wir hatten in den ersten Tagen nach der Maueröffnung riesige Angst, dass wir als nächste zurückgeholt werden würden«, erinnert sich Trang, der damals vietnamesischer Student in Berlin war und den nordkoreanischen Kommilitonen bis Silvester in seinem Einbauschrank versteckte. Die Regierung in Hanoi war von der Maueröffnung genauso überrascht worden wie der Rest der Welt. »Dürften wir in der DDR bleiben oder müssten wir nach Vietnam zurückkehren, das war die Frage«, sagt Trang.

60 000 vietnamesische Vertragsarbeiter sowie eine vierstellige Zahl von Studenten und Lehrlingen lebten 1989/90 in der DDR. Von den sowjetischen Armeeangehörigen abgesehen, waren sie die größte Ausländergruppe. Sie sollten nach dem Willen der Regierungen Vietnams und der DDR nur befristet bleiben: die Studenten bis zum Ende des Studiums und die Vertragsarbeiter in der Regel fünf Jahre. Bei der einen Gruppe ging es, gemäß dem entwicklungspolitischen Ansatz, um Ausbildung. So studierten etwa der Bildungsminister und der Vizebürgermeister von Ho-Chi-Minh-Stadt einst zwischen Elbe und Oder. Bei der anderen, größeren Gruppe ging es darum, personelle Engpässe in der Produktion zu stopfen. Die Vertragsarbeiter verrichteten un- und angelernte Tätigkeiten, für die sich in der DDR niemand sonst fand, etwa im Bergbau, in der Textilindustrie, auf Schlachthöfen, in Betriebskantinen oder im Straßenbau.

Trang durfte 1990 in der DDR sein Studium beenden, anders als viele Landsleute. Die Brandenburger Integrationsbeauftragte Karin Weiss schätzt, dass 16 000 der einst 60 000 vietnamesischen Vertragsarbeiter nach der Wiedervereinigung in Deutschland geblieben sind. Ihre Zahl hat sich inzwischen mehr als verdreifacht, weil Kinder geboren und Ehepartner nachgeholt wurden.

Dass ein großer Teil der Vertragsarbeiter 1990 zurückkehrte, lag nicht, wie im Falle Nordkorea, an einer Heimholaktion. Schuld waren die chaotischen Bedingungen der Wendezeit. Nach der Währungsunion waren viele Unternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Jobs der Un- und Angelernten fielen als erste weg. Und selbst vielen Betriebsräten erschien es sozial verträglich, zuerst die Vietnamesen zu entlassen.

Es war Almuth Berger, die erste und letzte Ausländerbeauftragte der DDR-Regierung, die im Frühjahr 1990 die Verträge mit Vietnam neu aushandelte. Die Entsendung neuer Vertragsarbeiter in die DDR, die eigentlich vereinbart war, wurde gestoppt, wie es in der Agenturmeldung von vor 20 Jahren nachzulesen ist. Wer eher als vorgesehen nach Vietnam zurückkehrte, erhielt 2000 DDR-Mark als Abfindung.

Ob zu dieser Zeit tatsächlich humanitäre Motive für die Entscheidung Hanois zur Rücknahme seiner Arbeitskräfte eine Rolle spielten, wie damals behauptet, ist eine von Historikern noch nicht beantwortete Frage. Ab 1992 war Hanoi jedenfalls weniger humanitär: Vertragsarbeiter, die nach Vietnam zurückkehren oder für einen Urlaub einreisen wollten, mussten zuerst Geld an die Botschaft zahlen. Viel Geld. Bis zur Währungsunion hatten die DDR-Betriebe vertragsgemäß zwölf Prozent des Bruttolohns jedes Arbeiters an die vietnamesische Staatskasse transferiert. Hanoi hatte an den Vertragsarbeitern mitverdient und wollte das auch in Zukunft tun. Ab 1992 wurde die Einreise nach Vietnam verweigert, bis das Geld nachgezahlt war. Das betraf auch Vietnamesen, die ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland verloren hatten, etwa weil sie mit unversteuerten Zigaretten gehandelt hatten. Diese hingen jahrelang zwischen Baum und Borke, weil Vietnam mindestens bis 1995 ihre Wiederaufnahme verweigerte.

Den in der DDR verbliebenen Arbeitern wurde im Frühjahr 1990 gestattet, sich einen neuen Job zu suchen oder sich selbstständig zu machen. Auch der Auszug aus dem Wohnheim war nun legal möglich. Wegen der herrschenden Wohnungsnot blieb dies aber meist noch Theorie. Und anders als bis 1989 waren Schwangerschaften nun kein Hindernis mehr für Vietnamesinnen, in der DDR zu bleiben. Wer vorher schwanger geworden war, musste zwischen Heimreise und Abtreibung wählen.

Es gab noch eine kuriose Kurzzeitregelung: In der DDR lebenden Vietnamesen wurde es nach der Maueröffnung nicht gestattet, in den Westen zu fahren. Damit kam die DDR einem Wunsch Vietnams nach, das einen massenhaften Exodus seiner Bürger fürchtete. Erst als die DDR mit der Währungsunion im Juli 1990 die Grenzkontrollen einstellte, erledigte sich diese Restriktion.

Bis dahin blieb Vietnamesen, die sich den Westen ansehen wollten, nur, das Chaos an der Grenze auszunutzen. Vor allem während der Silvesterfeier am Brandenburger Tor und der Demonstration am 1. Mai funktionierte das. Einige stellten in Westberlin einen Asylantrag. So auch der Nordkoreaner, der sich bei Trang im Schrank versteckt hatte. Silvester gelangte er im Trubel rund um das Brandenburger Tor unbemerkt auf die Westseite. Seitdem haben seine vietnamesischen Helfer nichts mehr von ihm gehört.

Trangs Frau Hoa war 15 Jahre alt, als ihre Mutter, die Vertragsarbeiterin in der DDR war, sie 1990 nach Berlin holte. Bis dahin hatte sie die Mutter entbehren müssen, die aus der DDR Motorräder, eine Nähmaschine und Nähzubehör schickte. Solche Sachen brachten der Familie viel Geld und machten das Überleben im bitterarmen Vietnam leichter.

Wer seine Familie nicht 1990 nachholte, als das geänderte DDR-Recht dies leicht möglich machte, musste in der Regel bis 1997 warten. Dann erst konnten sich die Innenminister der Bundesländer dazu durchringen, ehemaligen Vertragsarbeitern ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zuzusprechen, das auch einen Familiennachzug ermöglichte. Viele Familien haben die jahrelange Trennung nicht durchgestanden. Wenn der Ehepartner und die Kinder nach einem Jahrzehnt der Trennung im vermeintlich gelobten Land ankamen, sahen sie oft nicht nur die Schattenseiten eines Lebens als Zuwanderer in Deutschland. Viele Familienmitglieder waren einander fremd geworden.

Die Integration der zweiten Generation der Vietnamesen gilt heute als Erfolgsgeschichte: Überdurchschnittlich viele Schüler beenden die Schule mit dem Abitur und streben in akademische Berufe. Die Integration der Elterngeneration blieb dabei oft auf der Strecke. Jahrelange selbstständige Tätigkeiten ohne Urlaub, ohne Qualifikationen und oft sogar ohne Krankenversicherungen haben ihren Tribut verlangt.

Trangs Leben seit der Wende verlief unstetig, wie das vieler seiner Landsleute: Nach dem Studienabschluss landete er in einer Beschäftigungsgesellschaft. 1994 gründete er gemeinsam mit Landsleuten eine Import-Export-Firma, aus der er drei Jahre später im Streit mit den Kollegen ausschied. Er wurde arbeitslos, legte die Dolmetscherprüfung ab und eröffnete ein Dolmetscherbüro. Da er zu wenige Aufträge hatte, betreibt er seit 2004 gemeinsam mit seiner Frau einen Obst- und Gemüseladen. Die beiden Töchter besuchen heute das Gymnasium. Der Sohn wird im Sommer eingeschult.

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