Schüsse im Wald und die Chinesen
Haarsträubende Verschwörungstheorien zum Absturz der Kaczynski-TU
Zu Wochenbeginn waren noch immer 20 Opfer der Flugzeugkatastrophe, die sich am 10. April nahe dem westrussischen Smolensk ereignet hat, nicht identifiziert. Die Moskauer Gerichtsmedizin bemüht sich, mit Hilfe von DNA-Vergleichen sterblichen Überresten einen Namen zu geben.
Zugleich gehen die Bemühungen weiter, die Ursachen des Unfalls zu ermitteln. Wenig hilfreich sind dabei allerlei Spekulationen und Schuldzuweisungen. In Windeseile verbreitete sich im Internet ein Handy-Video, das offenbar schon wenige Minuten nach dem Aufschlag der TU-154M in einem Waldgebiet aufgenommen wurde. Zu sehen sind Trümmer, man hört Flüche, die Sirene eines Feuerwehrfahrzeuges und – Schüsse. Parallel dazu wird verbreitet, es habe Überlebende gegeben. Von bis zu acht Personen ist die Rede. Passt man diese – ohne Beleg verbreiteten – Meldungen dem Video an, ergibt sich ein schlimmer Verdacht nach der Art: einmal Katyn, immer Katyn.
Weit näher liegt der Verdacht, dass Munition, die die an Bord befindlichen Personenschützer bei sich trugen, in einzelnen Brandnestern explodierte. Immerhin wurden – so die russische Staatsanwaltschaft – in den Trümmern sieben Handfeuerwaffen gefunden.
Polnische Medien zitieren auch Beobachtungen russischer Kollegen, die gesehen haben wollen, dass die Russen ein Radargerät vom Militärflugplatz abgezogen haben. »Ein paar Tage vor dem geplanten Besuch von Lech Kaczynski in Katyn landeten am 7. April das Oberhaupt der russischen Regierung Wladimir Putin und Ministerpräsident Donald Tusk mit Hilfe eines speziell angelieferten Radargerätes auf dem Smolensker Flughafen. Am Samstag, dem 10. April 2010, war das Gerät verschwunden.« – Das berichtete Julia Latynina in der »Moscow Times«. Der Artikel ist online nicht mehr auffindbar, doch das Gerücht lebt weiter. Denn bereits während des Tusk-Besuches sei eine Strategie vorbereitet worden, wie man den Besuch des polnischen Präsidenten durch russische Behörden »als überflüssig behandeln lassen« könne.
Oberst Bartosz Stroinski, der am 7. April als TU-Kommandeur Premier Tusk nach Smolensk flog, bestätigte, dass die Landung mit Hilfe der Standardausrüstung des örtlichen militärischen Flughafens erfolgt sei. Er räumte ein, dass die Platzverhältnisse nicht besonders gut sind. Was niemanden verwundert, der russische Provinzflugplätze – auch die des Militärs – kennt.
Auf einer polnischen Internetplattform werden seit einigen Tagen auch Fotos mit russischen Militärs gezeigt, die sich an Lichtern der Landebahn zu schaffen machen. Dass es sich um normale Nachforschungen handelt, wird nicht behauptet. Vielmehr ist die Rede vom »Austausch der Landelichter«. Ein Video soll sogar belegen, dass die Lampengehäuse leer waren, also nicht funktionierten.
In Zweifel gezogen wird auch, dass zur Zeit des Landeanfluges dichter Nebel über dem Platz hing. Das lasse sich aus der Wortwahl des Air-Controlers im Tower schließen. Dass russische Expertenteams alles, was sie an der Unfallstelle fanden, eingesammelt haben, lässt Spionageabsichten vermuten. Jedenfalls bei denen, die sie unterstellen. Die Russen seien nur hinter NATO-Geheimnissen her, heißt es.
Doch auch polnische Geheimdienstler sind hellwach. Laut Bericht der »Rzeczpospolita« wurde die Präsidentenmaschine während ihres Fluges von Warschau nach Smolensk mit Hilfe eines speziellen GPS-Empfänger permanent vom polnischen Militärgeheimdienst SKW überwacht. Was das für die Unfallforschung bringt, ist unklar. Und bleibt es wohl auch, denn der Dienst, so heißt es, sei der Staatsanwaltschaft gegenüber nicht auskunftspflichtig. So erfahren wir auch nicht, was das alles mit dem Verschwinden eines Top-Chiffrier-Experten dieses Geheimdienstes zu tun hat. Kurz nach der Flugzeugkatastrophe verschwand er. Bleibt selbstverständlich nur die tatsächlich geäußerte Vermutung, dass die Russen (oder die Chinesen?) mit seinem Verschwinden zu tun haben.
»Bei einem Flugzeugabsturz mit vielen Politikern an Bord sollte man bei den Untersuchungen auch die Möglichkeiten eines Anschlags genauestens prüfen. Leider gibt es zumindest erste Hinweise darauf, dass möglicherweise nicht alles mit rechten Dingen bei der Tragödie zuging«, liest man bei »Polskaweb«. Und auch das Versprechen: Man werde »in den nächsten Tagen ausführlicher über Hintergründe, Aussagen und auch einem möglichen, sehr gewichtigen Motiv für einen Anschlag auf die politische Gruppe an Bord der Tu-154M informieren«.
Ob man darauf wirklich gespannt sein soll?
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