Visualisierte Grammatik
Martin Klosterfelde präsentiert »Collective Time« von Jorinde Voigt
Zum Merkwürdigsten, was Berliner Galerien derzeit ausstellen, dürfte »Collective Time« bei Klosterfelde zählen. Seit 1996 präsentiert Martin Klosterfelde zeitgenössische Kunst in Berlin, von Galerien in der Linien-, über die Zimmerstraße jetzt in einer stuckverzierten Wohnung der Beletage an der Potsdamer Straße.
In strengem Gegensatz zu Deckenstuck und Holzpaneel stehen in den drei Räumen die fünf Arbeiten von Jorinde Voigt. Dass die 33-Jährige, gebürtig aus Frankfurt am Main, ansässig in Berlin, vor ihren Kunststudien an der Universität der Künste sich auch kurzzeitig mit Philosophie, Soziologie, Literatur beschäftigt hat, merkt man den Werken an. »Grammatik II« erschließt sich am ehesten. An einer Wand zeigt die Installation acht von eigentlich 64 Flugzeugpropellern. Geschrieben pro schwarz lackiertem Propeller steht jeweils das Gegensatzpaar »Ich liebe mich – Ich liebe mich nicht«, und das durchdekliniert in je einem der beiden Personalpronomina, dann, im Plural, »Ich liebe sie – Ich liebe sie nicht« bis zu »Sie lieben sie – Sie lieben sie nicht«. Das ergibt 64 Möglichkeiten. Sophistisch variiert Voigt weiter: Der Ich-Form entspricht der größte, dem Plural der kleinste Propeller. Die Drehgeschwindigkeit ist steuerbar, und die Propeller können rechts- oder linksdrehend eingestellt werden. So macht Jorinde Voigt Grammatik sichtbar, und schon die acht justierten Propeller erzeugen genügend grammatischen Wind. Ein Schuss intellektuellen Witzes ist wohl auch dabei.
Schwieriger wird es bei »Intercontinental/Boeing, Studie 1-9«. In Tinte und Bleistift auf Papier zeigen die gleichformatigen Zeichnungen ein zunächst unüberschaubares Netzwerk aus Krakeln, Strichen, schwingenden Linien. Auf den zweiten Blick erkennt man die markierten Standpositionen jener Boeing 747. Was sonst alles an Aussagen enthalten sein mag, geht im Gewirr der Striche unter; es bleibt das grafische Resultat als Kunst an der Schnittstelle zu Technik.
Auch das titelgebende »Collective Time« recherchiert, diesmal im Bereich des Films. Exakt 70 dicht gestellte Aluminiumstangen bilden eine angelehnte, nur scheinbar uniforme Wand. Schwarzer Lack fixiert die Dauer der einzelnen Streifen, wie das American Film Institute sie angibt. Von Charles Chaplins »City Lights« aus dem Jahr 1931 bis zu James Camerons »Avatar« von 2009 passiert man so in wenigen Minuten Filmgeschichte im Einheitsformat, differenziert nur durch die Länge des Lackteils der Alu-Stangen. Anregend ist die Arbeit der Jorinde Voigt – hochbepreist, mit Ausstellungen in Europa sowie bis New York und Tel Aviv – allemal.
Bis 24.4., Galerie Klosterfelde
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