- Kultur
- 8. ND-Lesergeschichten-Wettbewerb
Archie und der hinkende Waschbär
Die Sonne zog langsam höher nach einem bitterkalten Winter. Es wurde wärmer, obwohl es noch gelegentlich erheblich kühl war und Graupel- und Hagelschauer auf die Hütte niederprasselten. Der alte Mann mit der grauen Schiebermütze und dem grauen Bart nestelte bunte Ostereier an die Birke. »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden belebenden Blick, / Im Tale grünet Hoffnungsglück; / Der alte Winter in seiner Schwäche, / Zog sich in rauhe Berge zurück«, deklamierte er etwas pathetisch, und der Einzige, der ihm zuhörte, war ein hinkender Waschbär, der nach den bunten runden Dingern haschte.
»Lass das, Schwuppi, du erhältst sie alle nach Ostern, du bist ja der Einzige, der übrig blieb.« »Wo ist denn der Igel hin, der mich rettete, als ich im Walde angeschossen wurde«, fragte Schwuppi und rieb die Pfoten aneinander, als würde er etwas waschen. »Tja, wer weiß«, sagte Graubart Archie und deklamierte weiter: »Von dort her sendet er fliehend nur / Ohn- mächtige Schauer körnigen Eises / In Streifen über die grünende Flur.« Und auf die Frage von Schwuppi zurückkommend: »Vielleicht einer von diesen blutjungen irren Rennfahrern, die oft genug an den Chausseebäumen landen, wo dann Holzkreuze stehen. Wenn ihnen ihr eigenes Leben schon nichts wert ist, was ist dann das Leben eines Igels wert?« »Was ist Ostern schon wert, wenn man nicht eins von den bunten Dingern fressen darf?« »Du bekommst schon noch genug«, ächzte der Alte, stieg eine Sprosse auf der Leiter höher und deklamierte weiter: »Aber die Sonne duldet kein Weißes, / Überall regt sich Bildung und Streben, / Alles will sie mit Farben beleben.«
»Und ich will auch etwas Buntes an die Birke bringen. Was rufst du immer in die Gegend?« »Das ist ein Gedicht, es heißt: ›Osterspaziergang‹. Aber heute kann man kaum noch spazieren gehen, weil man umgeradelt oder umgefahren wird. Übrigens sind nicht alle Ostereier aus Schokolade, die meisten sind nicht zum Fressen!«
Der Alte stieg von der Leiter herunter, nahm die Mütze ab, zündete sich eine Zigarette an, blinzelte in die Sonne und sagte: »Doch an Blumen fehlt's im Revier, / Sie nimmt geputzte Menschen dafür ... Nanu, wer kommt denn da angeflogen?«
Mit großem Geschacke und lautem Geschwätz flog ein Schwarm Elstern herbei, in ihrer Mitte ein bunter Papagei. »Kannst du verstehen, was sie schacken?«, fragte der Graubart den Waschbär im Flüsterton.« »Sie beraten, ob sie ihn gleich töten oder noch warten.« »So, so«, murmelte der Alte und gab einen seltsamen rollenden Laut von sich. Der Papagei erhob sich und flog Archie auf die Schulter. »Es funktioniert noch«, lächelte er und sagte: »Ich hatte früher mal einen Papagei. Sei willkommen, du bunter Vogel, wo kommst du her?« »Eigentlich von den langen Nächten aus Kreuzberg!« »Und wo willst du hin?« »Eigentlich zum Amazonas.« »Wieso eigentlich?« »Weil ich eigentlich nicht mehr weiß, wo ich herkomme, und wo ich hin will. Eigentlich wollte ich in die Freiheit!« »Wenn du willst, kannst du hier bleiben«, sagte der Alte und machte die Hütte auf, »hier hast du Schutz, Futter und die Freiheit, wenn du willst.« Der Papagei warf einen Blick auf die Elstern, flog in die Hütte und krächzte: »Aber bitte keinen Käfig!« »Nein, nein«, sagte Archie, »kommt nicht in Frage« und im Befehlston zu Schwuppi: »Du tust ihm nichts!«
»Wieso«, fragte der Waschbär »endlich einer, mit dem man reden kann. Sag mal was!« Der Papagei krächzt: »Die wirkliche Freiheit gibt es erst, wenn der Eule der Arsch blüht!« »Wo hast du denn den klugen Spruch her?«, fragte Archie verwundert. »Von der uralten Schildkröte aus der Zoohandlung!« »So, so«, ließ sich Archie anerkennend vernehmen, nahm einen Schluck Osterwasser, rang nach Luft und fragte: »Hast du noch so einen auf Lager?« Der Papagei krächzte lauter: »Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein!« »Der gefällt mir noch besser«, sagte Schwuppi und sprang vergnügt auf die Kommode, wo sein Stammplatz war.
»Ein guter Spruch zu Ostern und zu allen anderen Feiertagen!«, prostete Archie mit dem Glas den beiden zu. »Ich glaube, wir werden uns vertragen.«
Manfred Hocke, 12435 Berlin
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