Tanz der Welt um die Menschen
Tomaz Pandurs verrätselte »Symphony of Sorrowful Songs« beim Staatsballett Berlin
Sie hatte etwas ganz Besonderes werden sollen, diese letzte Premiere des Staatsballetts Berlin vorm Umzug aus der Lindenoper ins Schiller Theater. Für eine philosophische Paraphrase um das Thema Zeit verband sich Intendant Vladimir Malakhov mit internationalen Künstlern um den slowenischen Regisseur Tomaz Pandur. Vielschichtig geht der renommierte Theatermacher sein Motiv an, meint Zeit in großer Dimension als die Spanne zwischen ewig neuen Weltenschöpfungen, in kleiner Dimension als die Dauer einer Theatervorstellung, die auch Welten öffnet und durchschreitet. Und spielt vielleicht ebenso auf jene Zeit der Ungewissheit an, wie lange die Rekonstruktion an der Oper Unter den Linden letztlich brauchen wird.
Zeit als Phänomen, dem wir alle unterworfen sind, das uns zu handeln zwingt, den Alltag teilt, uns immer begegnet und dennoch ein Rätsel bleibt. Keine üble Voraussetzung für ein poetisches Theaterereignis voller Gleichnisse.
Mit im Boot, das durch die Zeiten schlechthin und die Zeit jenes Theaterabends schaukelt, sitzt der Pole Henryk Górecki, dessen grandiose 3. Sinfonie der Kreation den Titel lieh: »Symphony of Sorrowful Songs«. Sitzen die nur stimmlich anwesende, in Polen geborene Schauspielerin Hanna Schygulla als Erzählerin, der Kroate Ronald Savkovic als Choreograf. Ihnen allen baut das Design-Team NUMEN als überzeugendste Leistung des Abends eine imposante Bühne: Ein anfangs oben schwebendes Quadrat aus Licht fährt sich zu Hintergrundgröße aus; senkbare und aufrecht fahrbare Kulissen in streifiger Düsternis bilden ein flirrendes Gewirr rechtwinkliger Räume wie Rahmen für die einzelnen tänzerischen Bilder, verschieben sich späterhin zu Bretterverschlag, Gittergeflecht, Kreuz.
In einer Plastikfolie liegt weit vorn ein fast Nackter, der zum gleichmäßigen Fluss der Musik, einem Daueradagio der Klagetöne, seine Embryohaut abstreift, sich leidend reckt, die bloßen Füße in Stiefel steckt zu einer Reise. Dass sie durch russische Seelenlandschaften führt, den mittelalterlichen Ikonenmaler Andrej Rubljow und Andrej Tarkowskijs Filmsphären einbegreift, legen die Librettisten nahe. Zu sehen sind assoziative Bilder von Geburt, auch weiterer Männer, ihre Individualisierung durch Male, die ihnen Frauen aufkleben, ihr Soldatwerden in dunklen Uniformhosen, Kampf, Blutschuld.
Die Frauen, in Kostümen aus der Tiefe hinter einem Kulissenstreifen aufscheinend, legen einen Pumps ab, sind Vamp, Mutter mit symbolischem Kind im Arm, Tippse, Jungmädchen mit russischem Tüchlein. Dass bald nie mehr eine Zeit existieren werde, erneutes Geborenwerden einziger Trost sei, Zeit aus dem Blut verdunste, es eisig mache, alles vorherbestimmt sei, er, wer immer, sein Kreuz küsse, mit der Axt die Wand seines Kristallpalasts durchhieb, streut der Text über die Szene und verknüpft verbal jene »große« Zeit mit der kurzen der Aufführung.
Schwer auszumachen, was die Inszenierung, was die Choreografie beisteuert. Als Solist kann Vladimir Malakhov, zerbrechlich oft in seiner Nacktheit vor der Schwärze des Raums, darstellerische Sensibilität einbringen. Mit Nadja Saidakova als Madonnenwesen hat er folgenlose Begegnungen, die anderen Frauen nähren sich aus vorgeschnallten Brotbeuteln, sportiv weiß gewandete Männer mit Fahrrädern mögen China meinen und klingeln wie zur Parade, zu Nat King Coles weichem Rumbagesang aus den 1950ern tanzen Paare wie vorm Abschied in den Krieg.
Alles bleibt ein Wie, das man zu entschlüsseln hat in mannigfacher Deutbarkeit, auch jenes erotische Duo von Elisa Carrillo Cabrera und Leonard Jakovina. Häufig tanzt in Gestalt der Kulissenteile eher die Welt um die verharrenden Menschen. Im Trio dreier Männer, eng körperlich und mit Impulsweitergabe, hat die Choreografie ihren stärksten Moment, sucht ansonsten nach eigener Sprache und tänzerischen Sprachbildern.
Am Ende verschnürt Saidakova den zellophanierten Solisten mit rotem Klebeband in Kreuzform, ehe ein Knall die Welt zersprengt. Selig entlässt einen da Góreckis Vertonung der »Klage des Heiligen Kreuzes«, eines polnischen Gebets aus dem 15. Jahrhundert.
Weitere Aufführungen: 30.4. sowie 5., 11., 13., 20., 21. und 29. Mai
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