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Diskussion statt Dogmen
Bei der Vereinigung der LINKEN geht es auch um kulturelles Zusammenwachsen
2005: Landtagwahlen in NRW. Die neugegründete WASG will die Fünfprozent-Hürde überwinden. Die PDS hofft nach erfolgreichen Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen auf einen deutlichen Stimmenzuwachs. Der Wahltag bringt Ernüchterung. Beide Parteien verfehlen deutlich ihr Ziel. Und Bundeskanzler Schröder erhält die Quittung für seine Agenda 2010Politik. Sein Agieren führt zu vorgezogenen Bundestagwahlen.
Eine Chance für die Linken in Ost und West? Die Zeit ist knapp. Oskar Lafontaine und Gregor Gysi erklären sich bereit, für eine gemeinsam antretende Linke für den Bundestag zu kandidieren. Zwischen den Vorständen von WASG und PDS werden trotz erheblicher Vorbehalte Gespräche aufgenommen. Die Verständigung zu den wichtigsten Zielen beider Parteien offenbart viele Gemeinsamkeiten. Kontroversen werden benannt, aber zurückgestellt. Die PDS stellt auf ihren Wahllisten für die KandidatInnen der WASG und parteilose Persönlichkeiten aussichtsreiche Plätze zur Verfügung. Eine repräsentative Bundestagsfraktion kommt zustande. Eine gemeinsame Wahl- und Arbeitsplattform entsteht. Die neue LINKE platziert sich erfolgreich auf der politischen Bühne der Bundesrepublik. Aufbruchstimmung herrscht. Noch vor der formalen Gründung der Partei gelingt es ihr, im Mai 2007 in die Bremer Bürgerschaft einzuziehen.
Es folgen Wahlerfolge in Hessen, Niedersachsen, Hamburg, im Saarland und Schleswig Holstein. Im Wahljahr 2009 bleibt Sachsen stabil, in Thüringen und Brandenburg legt die LINKE noch einmal zu. Auch das Bundestagswahlergebnis löst Freude aus. Die LINKE ist plötzlich bei den Wahlen weit erfolgreicher als man es ihr – und als wir es uns selbst zugetraut hatten. Dies hatte auch mit der außerparlamentarischen Präsenz, mit dem engagierten Agieren der Mitgliedschaft vor Ort zu tun. Wir erzielen Erfolge und müssen lernen, damit verantwortungsbewusst umzugehen. Vertrauen wächst und die Erwartung an Verlässlichkeit im Handeln.
2010: Wieder stehen Landtagswahlen an. Wieder in NRW. Ich teile die Überzeugung, dass der Einzug der LINKEN in das Landesparlament des einwohnerstärksten Landes der Bundesrepublik bevorsteht.
Der permanente Wahlkampf hat Spuren hinterlassen. Wir haben erlebt, wie wichtig richtige Wahlbotschaften sind. Die neue LINKE hat keine Probleme mit einer Verständigung auf konkrete Forderungen. Dennoch wurde sichtbar, dass Wahlbotschaften – und seien sie noch so richtig – nicht ausreichen. Die BürgerInnen erwarten zu Recht ein darüber hinausgehendes Angebot zu den Vorstellungen der LINKEN für die künftige gesellschaftliche Entwicklung. Deshalb brauchen wir ein Programm und eine breite Diskussion darüber. Die LINKE benötigt die Grundsatzdebatte aber auch, um weiter zusammenzuwachsen. Es besteht dringender Handlungsbedarf.
Die Mitglieder der Programmkommission haben sich unter Leitung von Oskar Lafontaine und Lothar Bisky neben den ständigen Wahlkämpfen auf allen Ebenen der Erarbeitung des Programmentwurfs gestellt. Es war kein leichter Weg. Zumal wir selbstverständlich erreichen wollten, dass dieser Entwurf Aussicht auf Akzeptanz in einer plural agierenden Mitgliedschaft und in der demokratischen Öffentlichkeit hat. Dabei ging es vor allem um drei Ziele: Erstens musste der Programmentwurf eine konsensfähige Bewertung des neoliberalen Kapitalismus zeichnen, sich mit dem Kapitalismus in neuem Gewand des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus auseinandersetzen. Zweitens musste er eine Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Sozialismusversuch enthalten, denn ohne eine selbstkritische Haltung wäre ein Plädoyer für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung nicht überzeugend. Und drittens musste der Programmentwurf ein modernes Politikkonzept vorstellen, wesentliche Reformprojekte enthalten, die gleichwohl mit anderen gesellschaftlichen Kräften zu einer Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen können.
Dabei war für uns wichtig, den unter Linken gegebenen Konsens zu wesentlichen Positionen festzuhalten, aber auch, die unter den LINKEN existierenden grundsätzlichen Kontroversen aufzuzeigen. Bei letzterem ging es vor allem um die Fragen, welche Alternativen es zur bestehenden Eigentumsordnung gibt, wie mit dem Verhältnis von Gleichheit und Freiheit umzugehen ist, welche Rolle die öffentlichen Güter in einer demokratischen Ordnung haben, wie die Systemfrage formuliert werden muss, damit sie realpolitisch beantwortet werden kann, und welche Voraussetzungen zum Mitregieren der LINKEN gegeben sein müssen.
Wir wollten kein Programm, welches die spezifischen Zielstellungen der verschiedenen Strömungen, Plattformen und Gesprächskreise beinhaltet. Wir wollten ein streitbares Papier, welches Zusammenwachsen und gesellschaftliche Akzeptanz fördert und nicht die eigenen Reihen spaltet. Ein jeder von uns hat gelernt, sich zurückzunehmen, Formulierungsvorschläge abzuwägen und zu akzeptieren. Keiner hatte die Chance, all seine klugen, weitsichtigen, ja einzigartigen Vorstellungen und Formulierungen eins zu eins durchzusetzen. Pragmatische Antworten sind aus meiner Sicht nur möglich, wenn im Grundsatz Übereinstimmung besteht.
Im ND haben in den vergangenen sechs Wochen MitstreiterInnen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Standpunkte und Anregungen zu wichtigen Konfliktpunkten veröffentlicht. Wir wollten damit zur Diskussion anregen und nicht Ergebnisse unseres Diskussionsprozesses als Dogma vorgeben. Die Debatte wird nun zeigen, wie verantwortungsbewusst jede und jeder mit den unterschiedlichen Denkansätzen bei Wahrung seiner Erfahrungen und Vorstellungen umgeht. Wir wollen eine ehrliche, von einem Grundvertrauen geleitete Debatte, in der wir lesen, nachdenken, Argumente bündeln, offen sind für die Überlegungen und Anregungen der jeweils anderen, was zur Voraussetzung hat, dass wir zuhören und wieder nachdenken. Möglicherweise kommen wir in die Situation, eigene Auffassungen zu präzisieren oder auch zu ändern und mit dem Erkenntniszuwachs das Programm insgesamt zu bereichern.
Der veröffentlichte Programmentwurf erfuhr bislang interessante Reaktionen. Es war alles dabei, von »Endlich blickt die LINKE über den Tellerrand der eigenen Befindlichkeit« bis hin zu »Die Erwartung auf moderne Antworten auf Zukunftsfragen wurde nicht erfüllt«.
Deutlich wurde jedoch auch: Seit der Vereinigung der ostlinken PDS und der westlinken WASG hat die daraus hervorgegangene neue LINKE viel Terrain und programmatische Klarheit gewonnen Es gibt eine einzigartige Mischung verschiedener Erfahrungswelten, eine interessante, manchmal auch gewöhnungsbedürftige Kultur. Insgesamt erweist sich diese neue LINKE als eine wirksame politische Produktivkraft. Andererseits treten aber auch bestimmte Erscheinungen zu Tage, die eigentlich bei LINKEN nichts zu suchen hätten, wie Besserwisserei, Abwesenheit von Ehrlichkeit, Wichtigtuerei, Denunziantentum. Da hilft auch nicht der Hinweis darauf, dass es so etwas auch in anderen Parteien gibt, da wir uns doch von allen anderen Parteien unterscheiden wollen.
Es geht bei der Vereinigung unserer Partei auch und gerade um das Zusammenwachsen von Ost und West. Es geht um die Zusammenführung unterschiedlicher Traditionen, Kultur, struktureller Unterschiede. Es geht um die Zusammenführung der Volkspartei im Osten und im Saarland und den von (ausschließlich) oppositionellen Interessen geprägten anderen Teilen der Partei. Diese Verschiedenartigkeit sollten wir positiv annehmen. Auch und gerade weil wir mit marxistischer Dogmatik, postmoderner Beliebigkeit, Sektierertum, aber auch offenem Geist konfrontiert sind. Weil wir es mit der unterschiedlichen sozialen Situation von Hartz IV-Empfängern bis hin zu Unternehmern, ausgegrenzten Ossis, diffamierten oder enttäuschten Wessis zu tun haben. Mit dem ganz normalen Leben also. Aber einfacher ist es nun mal nicht zu haben.
Einen wichtigen Aspekt hat Gregor Gysi am 11. Januar 2010 betont. »Ich möchte nicht, dass die PDS über die WASG siegt und ich möchte nicht, dass die WASG über die PDS siegt. Ich möchte das Neue, DIE LINKE.«. Für diese Position bekam er viel Beifall. Im Übrigen kenne ich keinen, der öffentlich die Übernahme der einen durch die andere Quellpartei fordert. Trotzdem wird darüber geredet, wird eine solche Situation befürchtet. Und so gibt es neben den großen Chancen auch Gefahrenmomente für die neue LINKE. Zumal diese Vereinigung der beiden linken Parteien nach anderen demokratischen Spielregeln erfolgt als die unkritische Übernahme der anderen Ostparteien durch die bundesdeutsche CDU, FDP und Grüne. Und das ist gut so. Insofern wäre es unredlich mit Blick auf den Rostocker Parteitag, wenn sich nur eine Minderheit von 10 KandidatInnen aus den Reihen der ehemaligen PDS zur Wahl stellt, um hinterher im Brustton der Überzeugung zu erklären, dass zu viele aus den Altbundesländern gewählt wurden. Das wäre keine Übernahme, sondern unredlicher Selbstverzicht.
Die LINKE ist eine plurale Partei. Sie hat Flügel, Plattformen und Strömungen und derzeit ein unterentwickeltes Zentrum. Doch jede Partei benötigt ein von der Mitgliedschaft akzeptiertes Zentrum, eine politische Führung. Die uns vorgelegte Paketlösung für die zu besetzenden Spitzenpositionen hat keine Begeisterung bei den Mitgliedern hervorgerufen. Dies lag sicher an der nicht ausreichenden Vorbereitung. Aber am Ende ist sie trotzdem eine demokratische Form. Die Frage, wer künftig den Ton angibt, verleitet darüber nachzudenken, ob die eigene Strömung, Plattform, Gruppierung diesen wichtigen Platz ausfüllen sollte. Ich denke, Strömungen sollen Strömungen, Flügel Flügel und Plattformen Plattformen bleiben und als solche ihre – die Partei bereichernden – Empfehlungen geben.
Wenn wir über Gefahren reden, sollten wir uns auf Max Weber besinnen, der in seiner Schrift »Politik als Beruf« bemerkte: »Man kann sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend sind für den Politiker. Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft im Sinn von Sachlichkeit, leidenschaftlicher Hingabe an eine Sache, Verantwortungsgefühl, denn mit der bloßen als noch so echt empfundenen Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht als Dienst an einer Sache auch die Verantwortlichkeiten gegenüber eben dieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht. Das Augenmaß, die Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen. Die Stärke einer politischen Persönlichkeit bedeutet in allererster Linie den Besitz dieser Qualitäten.«
Max Weber verweist weiter darauf, dass ein Politiker täglich und stündlich einen ganz trivialen, all zu menschlichen Feind in sich zu überwinden hat, die ganz gemeine Eitelkeit. Es ist auch bedenklich, wenn Lothar Bisky über den Genossen Spaltpilz spricht, der – so sagt er – darüber nachdenkt, wie er den anderen Genossen Mitstreiter klein kriegt, wie er diesen in die Ecke drängen kann. Bisky beschreibt auch eine Art Verdächtigungskultur, die niemals Motor für Entwicklung ist, im Gegenteil. Entwicklung abwürgt.
Doch auch die Art und Weise, wie wir die Diskussion führen, wie wir die Kontroverse austragen, bleibt nicht unbeobachtet. JournalistInnen begleiten uns ausgiebig. Sie erkennen persönliche Aversionen, selbstdarstellerischen Ehrgeiz, fundamentalistische Prinzipienreiter, neidvolles Geschwätz, einen die Würde und Persönlichkeit der LINKEN missachtenden Stil und schreiben darüber. Es ist an uns, dies zu beenden. Das setzt aber voraus, dass wir das, was wir für die Gesellschaft anstreben, in einem aufgeschlossenen, solidarischen, würdevollen Umgang miteinander selbst praktizieren. Gregor Gysi hat einmal den Wunsch geäußert, dass sich das Maß der Selbstbeschäftigung in unserer Partei auf 10 Prozent reduzieren möge, im Übrigen aber Politik gemacht werden solle. Ich finde, er hat recht. Und ich bin zuversichtlich, dass wir diese Hürde nehmen können. Sozial und solidarisch. Besonnen und ehrlich.
Die bisherigen Artikel dieser Serie finden Sie auch auf unserer Website www.nd-aktuell.de.
Nächster Montag: Herbert Schwenk – Eine merkwürdige Ignoranz
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