»Seltsames Freiheitsverständnis«
Berlusconi-Regierung sieht sich und das Volk durch kritischen Film beleidigt
Erdbebens letztes Jahr in Aquila.
Wenn die italienische Regierung etwas überhaupt nicht vertragen kann, dann ist das Kritik. Wer die Arbeit von Silvio Berlusconi und seinen Ministern kritisiert, ist ein Kommunist und beleidigt Italien und alle Italiener. So zumindest sieht das Sandro Bondi, Italiens Kulturminister, enger Vertrauter des Ministerpräsidenten und einer der Koordinatoren der Berlusconipartei »Volk der Freiheit«. In einem offiziellen Brief an die Organisatoren des Filmfestivals im südfranzösischen Cannes hat er »mit Bedauern« ihre Einladung abgelehnt, weil dort ein »Propagandastreifen« gezeigt wird, der »die Wahrheit und das gesamte italienische Volk beleidigt«. Es geht dabei um »Draquila – Italien bebt« von Sabina Guzzanti, ein Dokumentarfilm über die Folgen des Erdbebens, das im April letzten Jahres die Stadt Aquila erschütterte, 308 Menschen das Leben kostete und über 100 000 Personen obdachlos machte.
Ministerpräsident Berlusconi erklärte den Wiederaufbau zur Chefsache, erschien unzählige Male selbst in der Stadt, ließ dort jeden seiner Schritte vom Fernsehen akribisch genau dokumentieren und brüstete sich immer wieder mit den Erfolgen. Sabina Guzzanti hinterfragt in ihrem Film die »offizielle Version«, spricht mit Experten, mit Politikern, aber vor allem mit den Opfern, mit den Menschen, die monatelang in Zeltlagern lebten und zum Teil immer noch in Hotels untergebracht sind. Sicher, die Regierung bekommt dabei ihr Fett weg, aber auch die Opposition bleibt nicht ungeschoren.
Vorbild von Frau Guzzanti, die sich einst als Kabarettistin einen Namen machte und Herrn Berlusconi schon immer ein Dorn im Auge war, scheint möglicherweise Michael Moore zu sein, der mit seinem »Fahrenheit 9/11« über die Hintergründe des Irak-Krieges 2005 beim Festival in Cannes die Goldene Palme für den besten Film gewann.
Die Organisatoren des französischen Festivals scheinen auch von der Qualität von »Draquila« überzeugt und sicherten sich den Film, der außerhalb des Wettbewerbs läuft. Und sie luden natürlich auch den Kulturminister des Nachbarstaates Italien ein. Doch der schlug diese Einladung mit der oben genannten Begründung aus. Seine Kollegin Michela Vittoria Brambilla, im Kabinett für Tourismus zuständig, erklärte sogar, dass sie den Film zwar nicht gesehen habe, aber doch darüber nachdenke, gegen ihn juristisch vorzugehen, da er »dem Ansehen Italiens« schade. »Dem Ansehen Italiens schadet wohl eher ein Minister, der seinen Pflichten nicht nachkommt«, erklärte Luigi De Magistris, Europarlamentarier von »Italien der Werte«. »Ich dachte, dass die Zeiten, als man die dreckige Wäsche zuhause waschen sollte, vorbei sind«, erklärte Daniele Luchetti, Regisseur des einzigen offiziellen italienischen Festivalbeitrags in Cannes. Und fürgte hinzu: »Ich persönlich bin stolz auf jeden freien Künstler. Und ich weiß wirklich nicht, was ich zu einem Minister sagen soll, der sich für so einen freien Künstler schämt…«
Aus Cannes kamen bisher keine Reaktionen. Nur Jack Lang, einst sozialistischer Kulturminister in Paris und heute Sonderbeauftragter von Staatspräsident Nicolas Sarkozy erklärte: »Die Entscheidung von Herrn Bondi zeigt doch ein seltsames Freiheitsverständnis…«
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