Israel hat den zivilen Ungehorsam im Visier
ND-Gespräch mit der Aktivistin Fanny-Michaela Reisin (Israel)
ND: Wie kam es zum gewaltfreien Widerstand in Bil`in?
Reisin: Bil`in ist ein kleines palästinensisches Dorf, 25 km von Ramallah entfernt, das im Jahre 2004 mit dem Bau der Trennmauer durch Israel konfrontiert wurde, die mitten durch das Dorf ging und es von 60 Prozent seiner landwirtschaftlichen Flächen trennte. Ein großer Teil des annektierten Landes, wurde für den Bau der israelischen Siedlung Modi’in Iliit genutzt. Als der Bau der Mauer 2005 begann, beschloss die Dorfjugend, Widerstand zu leisten, bis die Mauer wieder weg ist das Dorf seine Ländereien zurückerhält. Sie gründeten das Bil’iner Dorfkomitee des gewaltfreien Widerstands.
Ihre Aktionen sind durch Ideenreichtum und Kreativität geprägt. Bil`in ist inzwischen vor allem international zu einem starken Symbol geworden. Zu deutlich ist allenthalben, dass die seitdem amtierenden israelischen Regierungen gegen internationales Recht verstoßen. Dafür zeichnen übrigens auch die EU-Mitgliedsstaaten und namentlich die Bundesregierung verantwortlich.
Welche Reaktionen löste der Widerstand aus?
Der zivilgesellschaftliche Widerstand von unten zeigt, dass einfache Menschen – selbst in kleinsten Dörfern – »von unten« etwas bewegen und verändern können. Bil`in steht in Palästina inzwischen für ein Modell, dass von allen Parteien in Palästina anerkannt wird, ein Modell gegen die Verletzung von internationalem Recht. Diese Bewegung von unten steht in direkter Tradition der ersten Intifada (des Palästinenser-Aufstandes von 1987 – d. Red).
Was sind die Erfolge des Widerstands?
Der Oberste Gerichtshof in Israel hat 2007 Bil`in bezüglich des Mauerverlaufs zum Teil Recht gegeben. Aber erst Anfang dieses Jahres wurde mit den Korrekturen begonnen, um Bil`in 600 000 Quadratmeter Land wiederzugeben. Das ist ein beachtlicher Teilerfolg. Allerdings bleibt Bil’in nach wie vor von einem Drittel des unrechtmäßig enteigneten Landes abgeschnitten.
Der zweite Erfolg ist, dass seit 2006 an jedem Jahrestag des Beginns des Widerstandes eine internationale Konferenz in Bil`in stattfindet, zu der trotz widriger Umstände Aktivisten und Unterstützer von allen Kontinenten und insbesondere aus Israel anreisen. An der fünften Konferenz im April wirkten Vertreter und Vertreterinnen mittlerweile aller palästinensischen Parteien mit; auch der Premierminister der palästinensischen Autonomiebehörde, Salam Fayad, der dem zivilgesellschaftlichen Kampf für die Beendigung der Besatzung eine wichtige Rolle zuschrieb.
Weshalb ist dieser ziviler Ungehorsam so sehr ins Visier der israelischen Sicherheitspolitik geraten?
Er stört Israel zunehmend, weil er so erfolgreich ist. Seit sechs Jahren finden nach jedem Freitagsgebet an der Mauer Demonstrationen statt, im Winter wie im Sommer, was über eine so lange Zeit nicht so leicht aufrechtzuerhalten ist. Es sind die Erfolge des gewaltfreien Widerstandes, die im Visier der israelischen Regierung stehen. Die Koordinations- und Bürgerkomitees sollen zerschlagen, die gewaltfreie Bewegung mit allen Mitteln zerstört werden.
Wie äußert sich die Repressionspolitik?
Seit Juni 2009 finden gezielte gewaltsame Angriffe des israelischen Militärs auf die Dorf- und Bürgerkomitees statt. Vor allem in Bil’in und dem Nachbardorf Nil’in aber auch in al-Ma'asara (bei Bethlehem) oder Nabi Saleh (Ramallah) sollen die Menschen eingeschüchtert und die Komitees zerschlagen werden. Aktivisten und ihre Familien sind nächtlichen Razzien, Prügel und Verhaftungen ausgesetzt. Der Koordinator des Bil’iner Komitees, Abdallah Abu Ramah, der 2008 in Berlin die Carl-von-Ossietzky-Medaille entgegennahm, wurde ein Jahr später just am Internationalen Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember 2009, inhaftiert. Er sitzt seitdem im Gefängnis, seit fünf Monaten also, und immer noch ohne Urteil.
Was ist an Israels Repressionspolitik so gefährlich?
Wenn der bewaffnete Widerstand nicht gewollt ist, muss der gewaltfreie Widerstand geschützt werden. Und das ist das Anliegen der Internationalen Liga für Menschenrechte. Ein künftiger Friedensprozess – so er denn gewollt wird – ist auf die Einbeziehung der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivisten angewiesen. Wenn diese Kräfte aber in eine ausweglose Situation getrieben werden, hat weder Vernunft noch eine gerechte und lebbare Friedenslösung eine Zukunft.
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