Anschlag auf Newtons Thron
Vor 200 Jahren veröffentlichte Goethe sein Werk »Zur Farbenlehre«
»Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein«, erklärte Johann Wolfgang von Goethe am 19. Februar 1829 im Gespräch mit Johann Peter Eckermann. »Dass ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der Einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zu gute.«
Um auch die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, hatte Goethe weder Kosten noch Mühen gescheut. Sein Buch »Zur Farbenlehre«, das im Mai 1810 bei Cotta in Tübingen erschien, war das umfangreichste seiner Werke überhaupt. Und es blieb nicht ohne Wirkung. Vor allem Maler wie Philipp Otto Runge, William Turner und später Paul Klee und Wassily Kandinsky waren von Goethes Ideen fasziniert. Die meisten Naturforscher reagierten hingegen mit Unverständnis. Denn der Dichterfürst hatte seine Farbenlehre in ausdrücklicher Gegnerschaft zu Isaac Newton (1643-1727) entwickelt und es dabei, gelinde gesagt, an harschen Worten nicht fehlen lassen.
Wissenschaftler wie Newton täten der Natur oft Gewalt an und gelangten so zu Ideen, die lange Zeit als Wahnbilder fortexistierten, schimpfte Goethe, der sich selbst einer anderen Art von Forschern zurechnete. Diese seien nicht nur »geistreich und scharfsinnig«, sondern auch »gute Beobachter, sorgfältige Experimentatoren und vorsichtige Sammler von Erfahrungen«.
Über ein »gewaltsames« Experiment seines Kontrahenten war Goethe besonders empört: Newton hatte das Licht der Sonne mit Hilfe eines Prismas in die Farben des Regenbogens zerlegt und behauptet, das Sonnenlicht bestehe aus verschiedenen Farbanteilen. Dem widersprach Goethe entschieden und erklärte stattdessen, dass alle Farben erst durch das polare Zusammenspiel von Licht und Finsternis zustande kämen. So sei etwa das Blau des Himmels darauf zurückzuführen, dass wir den eigentlich dunklen kosmischen Raum durch das helle, aber leicht trübe Medium der Luft betrachteten. Das Sonnenlicht selbst hielt der Dichterforscher für unveränderlich. Weder könne man weißes Licht in verschiedene Farben zerlegen, noch könne man es daraus zusammensetzen. Alle Experimente, die so etwas offenbarten, seien entweder falsch oder falsch angewendet, schrieb Goethe, der hier natürlich irrte und Newton zudem indirekt vorwarf, schlampig gearbeitet zu haben.
Auf Grund eigener Experimente und Beobachtungen war Goethe bereits 1793 zu einer qualitativen Ordnung der Farben gelangt und hatte davon ausgehend seinen berühmten Farbkreis entworfen. Darin enthalten sind die Farben Purpur, Gelbrot, Gelb, Grün, Blau und Rotblau, denen Goethe »gute« und »schlechte« Eigenschaften zuwies. Die Farbe Gelb etwa steht danach für »Licht, Reinheit oder Wärme«, die Farbe Blau für »das Dunkle, die Kälte oder die Leere«. Dass vielen Naturforschern die Willkür einer solchen Aussage missfiel, liegt auf der Hand. Dennoch war es ausgerechnet ein berühmter Physiker, Nobelpreisträger Werner Heisenberg, der Goethe als Farbentheoretiker in Schutz nahm. Anders als Newton, meinte Heisenberg, sei es Goethe niemals um eine physikalische Erklärung der Farben gegangen. Er habe vielmehr versucht, die sinnlich-sittliche bzw. psychologische Wirkung von Farben auf unser Auge und Gemüt zu ergründen.
Was Goethe hierbei besonders interessierte, waren Farbkombinationen, von denen er manche als »harmonisch«, andere als »charakterlos« klassifizierte. Die Zusammenstellung der Farben Purpur und Gelb zum Beispiel hatte für ihn etwas »Heiteres und Prächtiges«. Die Kombination von Blau und Grün hingegen verabscheute er, da sie, wie er meinte, »gemein« und »widerlich« sei und im Volksmund zurecht als »Narrenfarbe« bezeichnet werde.
Unterschiedlicher Auffassung waren Newton und Goethe auch in Bezug auf die Rolle des Subjekts in der Erkenntnis. Bei Goethe steht die Subjektivität im Mittelpunkt seiner Lehre, die von der unmittelbaren Wahrheit sinnlich wahrgenommener Phänomene kündet. Oder, wie Carl Friedrich von Weizsäcker es ausdrückte (in einem Nachwort zu Goethes Farbenlehre): »Phänomen heißt etwas, was erscheint, was sich zeigt. Etwas zeigt sich jemandem; Objekt und Subjekt sind verbunden, wenn ein Phänomen sich ereignet.« Im Gegensatz dazu ging Newton über die Phänomene hinaus. Er vermutete dahinter eine weitere Schicht der Realität, bestehend aus quantitativ unterschiedlichen Materie- und Lichtteilchen, die zu beschreiben, er für die vornehmliche Aufgabe der Wissenschaften hielt. Dabei sollten Subjekt und Objekt stets streng voneinander getrennt werden.
Diese Unterschiede vorausgesetzt, könnte man in Anlehnung an Heisenberg auch sagen, dass Newtons und Goethes Farbenlehre im Verhältnis der Komplementarität zueinander stehen. Das heißt, keine von beiden ist im strengen Sinne falsch. Vielmehr gibt jede Lehre für sich einen Aspekt der Wirklichkeit richtig wieder, der durch die jeweils andere ergänzt wird.
Goethe freilich sah das anders. Bis zuletzt lehnte er Newton ab und plädierte dafür, an die Stelle des zergliedernden Rationalismus eine morphologisch-ganzheitliche Betrachtung der Natur zu setzen. 1829 erklärte er dazu unumwunden: »Dass aber ein Mathematiker, aus dem Hexengewirre seiner Formeln heraus, zur Anschauung der Natur käme, werde ich wohl nicht erleben.« Drei Jahre später starb Goethe, zumindest in Teilen unwiderlegt. Denn nach zahlreichen gescheiterten Bemühungen, die Natur reduktionistisch zu beschreiben, wandeln nicht wenige Naturforscher heute wieder auf Goethes Spuren. Zwar geschieht das nur selten absichtsvoll. Doch jeder Versuch, einen Forschungsgegenstand nach der notwendigen Analyse ganzheitlich zu rekonstruieren, darf gleichsam als »goetheanisch« bezeichnet werden.
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