Das Ende einer langen Freundschaft
Türkei beruft Botschafter aus Israel ab / Blockadegegner von Istanbul aus gestartet
»Allah u Akbar« schallt es über den zentralen Istanbuler Taksim-Platz, im Wechsel mit »Nieder mit Israel«. Auf den Transparenten wird Israel mit somalischen Piraten verglichen, andere fordern »Israel raus aus dem Nahen Osten«. Die Menge besteht fast ausschließlich aus islamischen Aktivisten, darunter viele junge Frauen im schwarzen Ganzkörperschleier. Normalerweise sieht das Publikum auf dem Taksim-Platz anders aus, aber die Nachrichten vom israelischen Militäreinsatz gegen den maritimen Hilfskonvoi für das blockierte Gaza trieb am Montagvormittag vor allem die Anhänger der islamischen Gruppen auf die Straße. Waren es am Morgen erst einige hundert, die spontan ins Zentrum gelaufen waren, strömten am Mittag bereits organisierte Massen zu Tausenden zum Taksim. Andere hatten sich schon in der Nacht auf den Weg zum israelischen Konsulat gemacht, wo es bereits am frühen Morgen zu einer Straßenschlacht mit der Polizei gekommen war.
Von den zuletzt gemeldeten 19 Toten, die Opfer der israelischen Militäraktion im offenen Meer wurden, sollen zehn aus der Türkei kommen. Das entspricht den Zahlenverhältnissen auf den sechs Schiffen, die, mit Hilfsgütern und Baumaterial beladen, gestern vergeblich versucht hatten, den Hafen von Gaza zu erreichen. Unter den 600 Menschen, die den Hilfskonvoi begleiten, sind 400 Türken. Auch das Flaggschiff des Konvois, die »Mavi Marmara«, kommt aus Istanbul. Eigentümerin ist die islamische Hilfsorganisation »Insan Hak ve Hürriyetleri ve Insani Yardim Vakfi« (IHH). Diese war anlässlich des Krieges in Bosnien gegründet worden, hatte dann die islamischen Kämpfer in Tschetschenien unterstützt und konzentrierte sich in den letzten Jahren überwiegend auf Palästina. Angeblich hat die Organisation gute Beziehungen zur Hamas. Weil es ihr nicht gelang, für die Aktion Schiffe zu chartern, hat sie kurzerhand zwei Frachter gekauft, einer von ihnen ist die »Mavi Marmara«.
Gemeinsam mit anderen islamischen Hilfsorganisationen veranstaltete IHH gestern in Istanbul eine Pressekonferenz, in deren Verlauf sie Israel des Mordes an »ihren Märtyrern« beschuldigte. Einer der bekanntesten islamischen Publizisten der Türkei, Ali Bulac, bezeichnete den Angriff auf den Hilfskonvoi als »kriegerischen Akt«, den die Türkei nicht unbeantwortet lassen darf. Auf einem eilig einberufenen Briefing der Regierung, das der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc in Abwesenheit von Premier Recep Tayyip Erdogan, der noch in Südamerika ist, veranstaltete, wurde Arinc gefragt, ob die Türkei nun ihrerseits Kriegsschiffe an die israelische Küste beordern würde. Der Vizepremier verneinte das zwar, Ankara werde aber den Botschafter aus Jerusalem abberufen, mehrere Militärabkommen mit Israel kündigen und eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates verlangen.
Das türkische Außenministerium hatte die israelische Aktion bereits zuvor in scharfen Formulierungen verurteilt und von »irreparablen Schäden« im Verhältnis beider Länder gesprochen. Auch Griechenland, von wo ebenfalls eines der sechs Schiffe gestartet war, hat ein gerade stattfindendes gemeinsames Luftwaffenmanöver mit Israel sofort abgebrochen. Die politischen Folgen für Israel dürften verheerend sein. Während der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad triumphierend verkündet, Gaza würde zum Grab für Israel werden, hat die israelische Regierung ihre Bürger offiziell aufgefordert, nicht mehr in die Türkei zu reisen, immerhin dem einzigen muslimischen Land, mit dem es Jahrzehnte verbündet war. Sämtliche türkischen Fernsehkanäle, auch die, die normalerweise nur Seifenopern senden, waren gestern mit dem Thema Hilfskonvoi beschäftigt. Auch wenn die demonstrierenden Islamisten für die Mehrheit der türkischen Bevölkerung nicht repräsentativ sind und es in einigen Internetforen auch Kritik an dem provokativen Charakter der Hilfsaktion gab – der 31. Mai 2010 dürfte im Rückblick für das Ende der türkisch-israelischen Freundschaft stehen.
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