»Wir haben uns wie im Krieg gefühlt«
Augenzeugenberichte von fünf Teilnehmern der Gaza-Solidaritätsmission
Da stehen sie – übermüdet, erleichtert, aber auch entschlossen: Nadar el-Sakka von der Palästinensischen Gemeinde Deutschland; Matthias Jochheim, der stellvertretende Vorsitzende der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW); die beiden LINKE-Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Inge Höger sowie ihr ehemaliger Parlamentskollege, der emeritierte Professor für Öffentliches Recht, Norman Paech. Wenige Stunden zuvor waren sie, aus Tel Aviv kommend, in Berlin gelandet und geben nun im Reichstag, umlagert von 30 bis 40 Medienvertretern, Auskunft über die dramatischen Ereignisse am 31. Mai 2010 im südwestlichen Mittelmeer.
»Wir haben uns wie im Krieg gefühlt«, beginnt Inge Höger. »Wenn wir jetzt – nach dem gestrigen Überfall – schon wieder hier stehen, dann deshalb, weil wir Abgeordnete des Bundestages sind. Andere sind ins Gefängnis gegangen.«
Das israelische Militär hatte die rund 480 Friedensaktivisten auf dem in der Türkei gecharterten Schiff »Mavi Marmara« nach Kidnapping auf Hoher See und Verschleppung samt Schiffen in den israelischen Hafen Aschdod erpresst: Nach einer Art erkennungsdienstlicher Behandlung sollte die Abschiebung ins Heimatland folgen oder – für die, die auf ihren Rechten bestanden – zunächst ein israelisches Gefängnis.
Die Gruppe der fünf Deutschen hat sich dafür entschieden, unverzüglich zurückzukehren, um der Weltöffentlichkeit über diesen politischen Skandal zu berichten.
»War das auf Anraten der Fraktion?« Deren stellvertretende Vorsitzende Gesine Lötzsch verneint: »Wir hatten ja gar keinen Kontakt zueinander.« Und ihr Kollege Jan van Aken ergänzt: »Wenn wir mit ihnen hätten sprechen können, hätten wir ihnen auch dazu geraten, sofort zurückzukehren.«
Norman Paech, dem 72-jährigen Völkerrechtler, der bis vergangenen Herbst noch außenpolitischer Sprecher der LINKEN-Fraktion war, kommt es noch auf etwas anderes an: »Praktisch bis zu unserer Rückkehr hatte Israel das Informationsmonopol über die Geschehnisse, weil sie uns von der Außenwelt isoliert hatten. Sehen Sie – Hose und T-Shirt, das ist alles, was mir die israelische Marine gelassen hat.«
Gerade das mit dem Informationsmonopol ist von einiger Bedeutung in dieser Stunde. Mehrere Journalistenfragen, so vom »Spiegel«, heben auf die offizielle israelische Behauptung ab, die die »Mavi Marmara« stürmenden Marineinfanteristen seien von Passagieren angegriffen worden. Nicht nur von Stöcken, auch Äxten und Messern ist die Rede.
Davon sei nach allem, was er gesehen habe, nichts, aber auch gar nichts wahr, sagt Paech. »Ich habe zweieinhalb Stöcke gesehen. Kein Messer, keine Axt oder gar Schusswaffen. Wir haben uns von Anfang an gesagt: Keine Gewalt, auch kein Widerstand, den konnten und wollten wir nicht leisten.«
Paech kann, angesprochen auf verletzte israelische Soldaten, recht genau Auskunft geben. »An einer Stelle, die ich einsehen konnte, hatte man eine Art Lazarett eingerichtet. Ich sah dort drei israelische Soldaten; einer offensichtlich mit einer Art Kreislaufkollaps, ein zweiter war am Arm verletzt. Alle drei verließen den Ort später den Ort auf eigenen Füßen.
Schwerverletzte und leider auch viele Tote hatte es aber bekanntlich auf Seiten der Passagiere gegeben. Davon hatte Paech Fotos mit seiner Kamera gemacht. Diese haben ihm die Soldaten dann aber abgenommen.
Überhaupt die Soldaten. Paech wird gefragt, ob er sie angesprochen habe. Der Professor verneint. Sie seien alle maskiert und – als militärischer Laie könne er es nur so ausdrücken – martialisch bewaffnet gewesen. Mit denen zu sprechen, habe er keine Lust verspürt.
Aber ob nun einige der Passagiere – mit einfachsten Gegenständen – selbst angegriffen oder sich lediglich damit verteidigt hätten, Paech und die anderen wollen da nicht missverstanden werden: Sie, die friedlichen Gaza-Aktivisten, seien – auf verbrecherische Weise, wie sie betonen – angegriffen worden. »Die Israelis haben ihre Sperrzone auf 68 Seemeilen erweitert«, sagt Paech, »aber wir waren davor und nicht drin.«
Zu den fünf »Deutschen« gehört auch der geborene Palästinenser Nadar el-Sakka. Er ist immer noch fassungslos. »Wir waren auf den Solidaritätsschiffen wie eine Familie. Wir haben mit vielem gerechnet: dass wir lange warten müssen oder dass man uns am Ende abweist, aber damit nicht. Nicht mit dieser Brutalität, mit Krieg. Den haben wir weder gewollt noch erwartet.« Dass Sakka jetzt schon wieder mit in Berlin ist, hat er wohl auch den beiden Abgeordneten zu verdanken, die darauf bestanden haben, dass sie nur gemeinsam als Fünfergruppe zurückkehren.
Mit ihnen wagte man wohl nicht ganz so umzuspringen, zumal auch die deutsche Botschaft in Israel inzwischen Kontakt aufgenommen hatte. Höger vermutet, dass insgesamt rund 30 Parlamentarier aus der halben Welt mit an Bord gewesen seien, so aus Italien, Malaysia und Marokko.
Zu der Frage nach weiteren deutschen Reiseteilnehmern und ihrem Verbleib antwortet Paech, er könne nichts Genaues dazu sagen, wisse aber von einem Journalisten, der nicht auf das Ausweisungs-»Angebot« eingegangen sei. Das heiße, er sei offenbar mit etwa 600 anderen Gaza-Unterstützern in das israelische Wüstengefängnis Beersheva abtransportiert worden. Der IPPNW-Arzt Matthias Jochheim vermutet, dass auf den verschiedenen Schiffen insgesamt etwa 700 Passagiere aus etwa 30 Ländern an Bord waren. Und er berichtet auch über seine traurige Zeugenschaft: »Ich habe selbst vier der getöteten Gaza-Aktivisten gesehen. Und nach den Wunden, die sie hatten, konnte ich erkennen, dass sie nicht durch Gummi- oder Leuchtspurgeschosse ums Leben gekommen waren, sondern durch scharfe, tödliche Munition.« Nach Jochheims Vermutung stammen die meisten Opfer aus der Türkei. »Sie gehörten wohl zum Service-Bereich des türkischen Unternehmens, von dem wir die ›Mavi Marmara‹ gechartert hatten.«
Norman Paech bekräftigt am Ende noch einmal, dass es sich um ein »völkerrechtliches Verbrechen« gehandelt habe, das »sehr hart bestraft werden« müsse.
Gesine Lötzsch sagt, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel mindestens den israelischen Botschafter hätte einbestellen müssen, um den Protest der deutschen Regierung tatsächlich und eindeutig zum Ausdruck zu bringen. Und sie sagt auch: Die LINKE ist an keiner Eskalation der Situation interessiert. »Das heißt auch: Wir wollen natürlich eine Fortsetzung des Friedensprozesses im Nahen Osten.«
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