Isaan – Thailands »Rote Zone«
Der arme Nordosten des Landes ist die Hochburg der Rothemden, die Bangkoks Zentrum wochenlang besetzt hielten
Der 58-jährige Pravit (Name geändert) durchlebte in Bangkok unruhige Tage und Nächte. Nicht dass er Angst vor einer gewaltsamen Auflösung des Protestlagers der Rothemden gehabt hätte oder dass ihm das Leben auf der Straße schwer gefallen wäre. Nein, er fürchtete einen Zusammenstoß mit seinem jüngsten Sohn. Wie viele junge Männer aus den armen Provinzen im Norden und Nordosten Thailands dient Pravits Sohn seit vergangenem November in der Armee. Während der Vater in Bangkok demonstrierte, bewachte der Wehrpflichtige den Flughafen Suvarnaphumi. Was wenn seine Einheit in die Nähe der Protestzone verlegt worden wäre? Das war Pravits größte Sorge.
Doch es kam nicht dazu. Am 7. April kehrte Pravit in seine Heimatprovinz Kalasin zurück. Isaan wird dieser Teil des Landes genannt, der aus 19 Provinzen besteht. Dass die Armee wenig später angreifen würde, ahnte Pravit damals noch nicht. Und nach der ersten tödlichen Auseinandersetzung zwischen Rothemden und Militärs am 10. April, bei der sein Sohn eingesetzt wurde, wagte Pravit nicht, noch einmal nach Bangkok zu fahren.
»Es war einfach schrecklich, Menschen gegenüberzustehen, die meine Freunde sein könnten, meine Nachbarn oder Angehörigen. Man sagte uns, wir müssten die Demonstranten verjagen, aber ich hätte niemals solch tödliche Konsequenzen erwartet«, berichtet der 22-jährige Sohn, mit Spitznamen Thongchai, während er neben seinem Vater sitzt. Er hat zwei Wochen Heimaturlaub. Aber über jenen blutigen Tag diskutiert er mit Pravit kaum.
Zur Armee wird vor allem gezogen, wer seine Schulausbildung nicht abgeschlossen hat. Thailands ärmste Region liefert besonders viele Rekruten. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ein Großteil der Rothemden aus der gleichen Region kommt. Ohnehin gilt der Nordosten als rebellisch. Hier rief die Kommunistische Partei Thailands 1965 eine Guerillabewegung ins Leben, die bis in die frühen 80er Jahre aktiv war. Deren Aufstand ist Geschichte. Aber die einstigen »Roten Zonen« scheinen durch die Rothemdenbewegung wiederbelebt zu werden.
»Wer keinen Kommunisten zum Freund hatte, war in jenen Tagen ohne Freunde«, erinnert sich Khitisak Posawant in Pakchong, einem Dorf der Provinz Mukdahan. Längst hat er sich den Rothemden angeschlossen und ist stolz, an der großen Demonstration für Demokratie in Bangkok teilgenommen zu haben. Fast die Hälfte der 200 Haushalte im Dorf war in der Hauptstadt vertreten, und wer nicht dabei war, beteiligte sich an Aktionen in der Heimat. »Meine Generation weiß, wie brutal die Streitkräfte vorgehen. Wir haben da unsere Erfahrungen«, fügt der 58-Jährige hinzu. »Sie ziehen einfach am Abzug – wie am 19. Mai.«
»Alles Terroristen«
Yon Ngonsuk, auch er Anhänger der Rothemden, scheut sich nicht, über seine Geschichte zu sprechen: Er kämpfte einst gegen die Aufständischen. »Wir wussten nicht, wer Kommunist war und wer nicht. Uns wurde eingeredet, dass alle im Operationsgebiet Kommunisten seien. Ähnlich wie Abhisit jetzt alle Rothemden als Terroristen bezeichnet.« Yon diente damals im Freiwilligen-Verteidigungskorps, einer paramilitärischen Einheit. Freiwillig hatte er die Uniform jedoch nicht angezogen. Als 18-Jähriger war er verhaftet worden, weil er der Guerilla geholfen hatte. Danach verkehrte sich sein Leben ins Gegenteil.
»Wir alle sind Thailänder, wir lieben einander, wir wollen nicht gegeneinander kämpfen.« Die Parolen, die in den vergangenen Monaten überall dort aus Armeelautsprechern schallten, wo sich Streitkräfte und Rothemden gegenüberstanden, kennt Yon schon seit 40 Jahren. Die ihn damals verhafteten, sagten dasselbe. »Sie erklärten uns, dass wir doch alle Thailänder seien und einander lieben müssten.« Nachdem er zum Militärdienst gezwungen und einer Gehirnwäsche unterzogen worden war, musste er dennoch auf alles schießen, was in sein Sichtfeld kam. Erst in den frühen 90er Jahren kehrte er ins Zivilleben zurück.
»Obwohl ich 20 Jahre beim Militär verbracht habe, hasse ich die Soldaten, wenn ich sehe, wie sie gegen Demonstranten vorgehen, die nur nach Demokratie verlangen«, sagt Yon heute.
Ein Monat ist seit der Niederschlagung des Rothemdenprotests am 19. Mai vergangen. Das Land bleibt gespalten. Zwar spricht Premierminister Abhisit ständig von »Versöhnung«, doch die Taten seiner Regierung schließen Versöhnung aus. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Kanit Na Nakorn wurde beauftragt, ein unabhängiges Komitee zu bilden, das den Tod so vieler Menschen untersuchen soll. An der Unabhängigkeit Kanits, der sich sehr freundlich gegenüber der Regierung gezeigt hat, bestehen indes erhebliche Zweifel.
Die Hoffnung auf baldige Neuwahlen, das Ziel der Rothemden, hat Abhisit zunichte gemacht. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Lockerung der Kontrolle über die Medien. Das Krisenzentrum CRES, vom Militär beherrscht, blockiert 2200 Internet-Seiten und behauptet, darauf sei während des Ausnahmezustands gegen das Strafgesetz verstoßen worden. Einem Polizeibericht zufolge, der auf Druck von Menschenrechtsgruppen veröffentlicht wurde, hat die Armee nach dem 19. Mai über 400 Menschen inhaftiert. Die meisten Anführer der Proteste werden wegen Terrorismus angeklagt, was in Thailand mit der Todesstrafe geahndet werden kann. Menschenrechtsgruppen befürchten, dass mindestens 100 Personen »verschwunden« bleiben. Die Zeitung »Matichon« berichtete am 10. Juni, dass weitere 819 Haftbefehle erlassen wurden.
Luen Sisupho aus der Provinz Sakon Nakon gehört zu jenen, die sich verbergen. Er erhielt eine Aufforderung, sich am 25. Mai bei der Polizei zu melden, anderenfalls ergehe Haftbefehl. Daraufhin schickte er der Polizei ein Fax mit der Bitte um Verlängerung der Frist bis zum 7. Juni – ohne eine Antwort zu erhalten. Luen ist Aktivist der Vereinigung der Armen, Thailands bekanntester Nichtregierungsorganisation. Er hatte nie für eine der »roten« Parteien des 2006 durch einen Putsch gestürzten Premiers Thaksin Shinawatra gestimmt und sich immer von den Rothemden fern gehalten – bis er sich im März ihren Demonstrationen anschloss. »Wie könnte ich nicht mit den Zielen der Rothemden, der Forderung nach Auflösung des Parlaments und Neuwahlen übereinstimmen. Das ist eine demokratische Forderung, oder nicht?« fragt er.
Vieles deutet darauf hin, dass die Niederschlagung der Proteste deren Anwachsen zur Folge haben wird. So war es schon 2009 nach Ausschreitungen während des Neujahrsfestes Songkran. Der 22-jährige Akkaradej Khankaew, der im Mai im vermeintlich sicheren Pathuwanaram-Tempel im Zentrum Bangkoks getötet wurde, begann damals, »People’s Channel« zu sehen, den Fernsehkanal der Rothemden. »Mein Neffe wollte erfahren, was in diesem Land vor sich geht«, erinnert sich seine Tante Intaracham Inphum. »Wir haben gemeinsam die Proteste in Bangkok besucht. Während ich wieder nach Hause gefahren bin, blieb er – und wurde getötet«, klagt die Tante und betrachtet im Zimmer ihres Neffen das in Thailand allgegenwärtige Bild des Königspaares.
Ende Mai begann in den Isaan-Dörfern eine Kampagne »zum Schutz der Monarchie«. Die Dorfvorstände wurden vom Innenministerium angewiesen, Unterschriften zu sammeln. Die Dörfler sollen ihrem Willen »zur Verehrung der Monarchie« und zur »Verteidigung der Monarchie mit ihrem Leben« Ausdruck geben. »300 Unterschriften soll ich im Dorf sammeln, doch ich fürchte, dass ich das nicht schaffe, denn einige der etwa 500 Dorfbewohner leben derzeit außerhalb«, erklärt ein Dorfvorsteher in der Provinz Kalasin. »Wir organisieren große Feierlichkeiten zu jedem Geburtstag des Königs und beweisen unseren höchsten Respekt. Ich verstehe nicht, warum wir dieses Manifest unterschreiben sollen, das nichts Neues enthält«, sagt ein anderer
Noch schwerer bedrückt den Dorfvorstand eine zweite Anweisung. 20 Dorfbewohner sollen einer »Gruppe zum Schutz der Monarchie« beitreten. Das erinnert viele an die früheren paramilitärischen Dorfgruppen.
Vor neuer Machtprobe?
Kommt es im Isaan zu einer neuen Machtprobe? Wut und Verzweiflung mischen sich in die Gefühle der Rothemden, die darüber diskutieren, was zu tun ist. Sollte man beim Besuch des Sonntagsmarkts demonstrativ rote Hemden tragen? Oder nichts mehr an Soldaten verkaufen? Die Lehrerin Panee Tamma aus der Provinz Khon Kaen setzt auf künftige Wahlen, bezweifelt aber, dass sie »fair und gerecht« verlaufen.
Die International Crisis Group (ICG) warnt davor, dass ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte, sollte keine politische Lösung für die dem Konflikt zu Grunde liegende sozialen Spaltung und die massiven Demokratiedefizite angeboten werden. »Es gibt viele Menschen hier, die einer Untergrundbewegung beitreten und selbst bei einem bewaffneten Aufstand mitmachen würden, wenn ihn denn nur jemand lostritt«, sagt ein Anhänger der Rothemden, der verständlicherweise seinen Namen nicht nennen will.
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