Bei Ausflug Kunst

Verein Endmoräne stellt in der Rüdersdorfer Villa Thyssen aus

  • Heike Mildner
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Villa Thyssen im Rüdersdorfer Ortsteil Hennickendorf hat schon bessere Zeiten erlebt. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte August Thyssen junior das Gebäude errichten lassen, 1910 wurde es zwangsversteigert und von August Thyssen senior gekauft. Dieser investierte in Kalkbrennerei, Kalkstein- und Zementfabrik, belieferte ab 1913 in großem Stil Berliner Bauherren und machte die unternehmerische Schlappe seines Sohnes mehr als wett.

Und die Villa? Seit sie 1990 vom VEB Kraftverkehr Fürstenwalde verlassen wurde, steht sie etwas trostlos im östlichen SpeckgürtelGrün Berlins. Genau das Richtige für Endmoräne, ein Netzwerk von Künstlerinnen aus Berlin und Brandenburg, das solch verlassene Orte seit seiner Gründung 1991 als Anregung und Herausforderung für künstlerische Interventionen im Rahmen einer alljährlichen Sommerwerkstatt betrachtet.

Mehrere Ortsbegehungen und das gemeinsam beschlossene Thema »Geli(e)btes Leben« ließen in 19 Köpfen Ideen reifen, die nach dem 7. Juni in zwei Arbeitswochen Gestalt annahmen. Die Villa, die trotz ihrer bröckelnder Innen- und Außenhaut noch viel vom Optimismus ihrer Entstehungszeit in sich trägt, wurde zum Objekt 19-fachen Gestaltungswillens. Entstanden ist ein Mosaik, dessen Teile sich zwanglos zu einer unbedingt sehenswerten Gesamtheit fügen und das neben dem Ort die Frauen und ihre »gel(i)ebten Leben« ins Blickfeld des Betrachters rückt.

Von Endmoräne-Beginn an dabei ist Erika Stürmer-Alex, deren Kunsthof in Lietzen auch Sitz des Vereins ist. In den Wintergarten der Villa hat sie die vergrößerte Styropor-Kopie einer handtellergroßen, 5000 Jahre alten maltesischen Terrakotta-Frauenfigur gestellt. Das raumsprengende Zitat setzt sie in Beziehung zu drei Stelen aus Gebissabdrücken, die der »Ruhenden Göttin« – die sich als das Leben in Essenz verstehen lässt – zusätzlich zu den räumlichen die lebenszeitlichen Grenzen aufzeigen.

Nebenan löst sich in Dorothea Neumanns »Frauenzimmer« die Essenz im Beispielhaften: 110 Porträtfotos, deren Betrachtung akustisch durch Interviewausschnitte begleitet wird. Da lassen sich Lebenslinien verfolgen, denen der Betrachter ein Stockwerk höher assoziativ wiederbegegnen kann. Antje Scholz hat ein filigranes Geflecht aus Flachs und Staub vom Boden in den Lichtschacht wachsen lassen. »Ich versichere ihnen, dass jede Verknüpfung einer ganz persönlichen Entscheidung unterlag. Werden so Schicksale verwoben?« fragt die Künstlerin in ihrer Arbeit, die sie »Von Staub zu Staub« genannt hat.

Und der Staub in der Villa, der über Jahrzehnte zur Gegend gehörte wie der Kalkstein zum Zement, inspirierte auch Christiane Wartenberg. Sie beschrieb Wände und Boden ihres Raumes mit der Rüdersdorfer Litanei, einer verbalen Staubmeditation: »Asche zu Asche, Staub zu Staub, Thyssen zu Thyssen«, heißt es darin.

Wie diese vier haben sich die 15 weiteren Endmoräne-Künstlerinnen auf ihre Weise mit Thema und Ort auseinandergesetzt. Zu jeder Arbeit gibt es Erläuterungen, die dem ungeübten Betrachter den Zugang erleichtern und intuitiven Kunstgenuss vertiefen helfen. Im Anschluss an die Entdeckungen in der Villa empfiehlt sich ein Gang hinunter zum Stienitzsee. Hier sind Relikte industrieller Eingriffe in die Natur zu bewundern: Ein Wald aus Betonpfählen, der vom echten Wald in ästhetischer Vollendung zurückerobert wird.

Bis 11. Juli, Villa Thyssen, Hennickendorf, Berliner Str. 19, Sa. und So. von 11 bis 19 Uhr

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